Das soziale Tier
kleiner Fisch, der in seichtem Wasser lebt. Bei Ebbe besteht ihr Lebensraum nur noch aus kleinen Tümpeln. Doch die Grundel springt sehr sicher über Felsen und trockene Grate von einer Pfütze zur nächsten. Wie macht sie das? Sie kann die trockenen Stellen ja nicht in Augenschein nehmen, bevor sie springt, oder sehen, wo sich der nächste Tümpel befindet. Setzt man eine Grundel in ein fremdes Habitat, springt sie nicht. Wie lässt sich dieses Verhalten erklären? Bei Flut streifen die Grundeln umher, nehmen die Landschaft in sich auf und speichern Karten in ihrem Gehirn. Bei Ebbe verfügen sie daher über eine mentale Karte der Landschaft, die ihnen sagt, welche Felsrücken trocken liegen und welche Vertiefungen mit Wasser gefüllt sind.
Auch der Mensch versteht sich gut darauf, durch Umherstreifen Wissen anzuhäufen. Seit mittlerweile 90 000 Generationen erkundet der Mensch Landschaften, wittert Gefahren und Chancen. Wenn Sie eine neue Landschaft erkunden oder ein neues Land besuchen, registrieren Sie alles mit wachen Sinnen, wie ein Baby. Ihr Auge wandert von einem Gegenstand zum nächsten.
Diese Empfänglichkeit setzt allerdings voraus, dass man sich auch physisch an diesen Orten befindet. Es genügt nicht, wenn man nur darüber liest, sondern man muss dort sein und in die Umgebung eintauchen. Wenn man einen Ort nicht physisch aufsucht, dann kennt man ihn nicht wirklich. Wenn man nur die Fakten studiert, weiß man nicht, wie es dort ist. Wenn man nicht mit den Menschen in Kontakt tritt, kennt man sie nicht. Wie es in einem japanischen Sprichwort heißt: »Nicht studieren, sondern sich daran gewöhnen.«
Wenn man sich an einem Ort aufhält, ist man einer Fülle konkreter Sinneseindrücke ausgesetzt. Tausend Empfindungen überfluten einen. Wenn in früheren Zeiten ein Wanderer einen Wasserlauf sah, löste dieser Anblick ein Lustgefühl in ihm aus. Erblickte er dagegen einen dichten Wald oder eine schroffe Klamm, verursachte dieses Bild eine leichte Furcht in ihm.
Das Gehirn will sämtliche Sinneswahrnehmungen, die es empfängt, sofort bewerten und neue Daten mit Hilfe irgendeiner Theorie einsortieren. Menschen hassen Ungewissheit und sind sehr schnell mit Urteilen bei der Hand. Colin Camerer hat herausgefunden, dass die Angstzentren im Gehirn eine erhöhte Aktivität zeigen, wenn Menschen unter solchen Umständen Karten spielen, die es ihnen nicht erlauben, ihre Siegeschancen zu berechnen. 38 Sie versuchen die Furcht dadurch zu beenden, dass sie eine Schlussfolgerung – irgendeine – über das Muster des Spiels ziehen.
Doch der Wanderer ist mit Ungewissheit konfrontiert. Der kluge Wanderer hält sich zurück und zügelt sich; er besitzt das, was John Keats »negative Begabung« nannte, die Fähigkeit, mit »Ungewissheiten, Geheimnissen, Zweifeln zu leben, ohne nervös nach Fakten und Ursachen zu suchen«.
Je komplexer eine Landschaft ist, umso mehr verlässt sich der Wanderer auf seine Geduld. Je verwirrender ein Anblick ist ist, umso toleranter wird seine innere Einstellung. Er ist sich nicht nur seiner Unwissenheit bewusst, sondern auch seiner Schwäche angesichts dieser Unwissenheit. Er weiß, dass sein Gehirn aus den ersten Daten, auf die es stößt, eine allgemeingültige Theorie ableiten wird. Das ist der Ankerungsfehler. Er weiß, dass sein Gehirn die jüngste Erfahrung heranziehen und versuchen wird, die Lektionen jenes Falls auf diesen anzuwenden. Das ist der Verfügbarkeitsfehler. Er weiß, dass er mit bestimmten stereotypen Annahmen darüber, wie das Leben funktioniert, in diese Situation hineinkam, und er wird versuchen, das, was er erlebt, im Einklang mit diesen Annahmen zu deuten. Das ist der Attributionsfehler.
Er ist auf der Hut vor diesen Fehlschlüssen. Er konzentriert sich auf die basalen Sinnesempfindungen. Er nimmt vorläufige Verallgemeinerungen vor und konzentriert sich abermals auf die Sinnesempfindungen. Er geht weiter und nimmt neue Eindrücke auf, wobei er die Information tief im Innern marinieren lässt. Er greift dies und jenes spielerisch auf. Er betrachtet einen Ausschnitt der Landschaft und tastet sich langsam in einen anderen Ausschnitt vor. Er begegnet Menschen in dieser neuen Landschaft und probiert ihre Verhaltens- und Denkweisen im Stillen aus. Er beginnt sich so fortzubewegen, wie sich andere fortbewegen, und so zu lachen, wie andere lachen. Er sieht die Verhaltensmuster ihres Alltagslebens, derer sie sich nicht einmal mehr bewusst sind. Sein Gesicht pendelt
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