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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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könnte. Doch Raymond stellte ein paar Bedingungen: »Erstens: keine verdeckten Operationen – wir sind offen und ehrlich. Zweitens: keinen Putsch – wir haben es nicht auf bestimmte Personen abgesehen. Wir machen Vorschläge zur Unternehmensstrategie. Drittens: wir wollen Hilfe leisten. Wir stellen niemandes Fähigkeiten infrage, wir versuchen lediglich, konstruktive Alternativen aufzuzeigen.«
    Erica hielt das für etwas spitzfindige, aber letztendlich belanglose Unterscheidungen. Schließlich war es undenkbar, dass Taggert gewillt und imstande wäre, die von Raymond entwickelten Strategien umzusetzen. Eine geschäftspolitische Neuausrichtung wäre nur mit neuen Köpfen möglich. Aber wenn Raymond auf diese Bedingungen pochte, um einem alten Loyalitätskodex zu entsprechen, dann sollte es ihr recht sein.
    Sie begannen, eine Reihe von Vorschlägen zur Rettung des Unternehmens zu erarbeiten. Sie taten dies in aller Öffentlichkeit in der Cafeteria, als Mitglieder dessen, was sie den »Brunch Club« nannten, zu Ehren von Raymonds früher Mittagspause.
    Sie arbeiteten mehrere Wochen an ihren Vorschlägen. Dabei faszinierte es Erica, wie Raymond die Gruppe leitete. 1 Zuerst schien er die meiste Zeit damit zu verbringen, über das zu sprechen, worin er nicht gut war. »Tut mir leid, aber ich kann mit Ablenkungen nicht besonders gut umgehen«, sagte er, wenn er vor jeder Gesprächsrunde sein Handy ausschaltete. Tatsache ist, dass kein menschliches Gehirn mit Ablenkungen gut umgehen kann, aber Raymond war klug genug, das zu wissen. »Tut mir leid, ich bin nicht besonders gut im Verallgemeinern«, unterbrach er sie eines Tages. Tatsache ist, dass die meisten Menschen besser mit Bildern als mit abstrakten Begriffen klarkommen, aber Raymond war so ehrlich, dies zuzugeben. »Könnten wir vielleicht eine Tagesordnung aufstellen?«, fragte er. »Ich schweife in Gedanken ständig von einem Thema zum nächsten.« Tatsache ist, dass die meisten Menschen einen Gedanken nur zehn Sekunden lang festhalten können, aber Raymond war so klug, einzusehen, dass er eine äußere Struktur bräuchte, um bei der Sache zu bleiben. Zu Beginn jedes Mittagessens notierte er eine Liste mit Punkten, über die er sprechen wollte, und im Verlauf des Gesprächs warf er immer wieder einen flüchtigen Blick auf die Liste.
    Raymond wusste über seine Unzulänglichkeiten umfassend Bescheid. Er wusste, dass es ihm schwerfiel, mehr als zwei Optionen gleichzeitig miteinander zu vergleichen. Wenn man ihm drei gab, war er verwirrt, sodass er Zweierpaare bildete und von einem binären Vergleich zum nächsten überging. Er wusste, dass er gern seine eigene Meinung bestätigt fand, weshalb er Erica und die anderen aufforderte, zunächst die Argumente und Daten vorzubringen, die seiner Position widersprachen. Er wusste, dass er in jeder Situation zu einer zaghaften Vorgehensweise tendierte, sodass er sich immer dazu zwang, die Argumente für die riskanteste Strategie zu resümieren, ehe er die Gründe für die vorsichtigere Variante darlegte.
    Der Brunch Club hatte die Absicht, acht bis zehn Strategiepapiere zu erarbeiten, die sie dem Aufsichtsrat und Vorstand unterbreiten könnten. Sie erstellten ein Konzept nach dem anderen. Bei Tisch diskutierten sie dann darüber. Die meiste Zeit verbrachten sie allerdings nicht damit, neue Ideen zu entwickeln. Wie Raymond Erica eines Abends nach einem langen Arbeitstag erklärte, geht es in den meisten Geschäftsbesprechungen nicht darum, neue Pläne zu entwickeln, sondern darum, eine Gruppe von Managern von einer bestimmten strategischen Ausrichtung zu überzeugen.
    »Gibt es Einwände dagegen?«, fragte Raymond einmal, als sie ein neues Einstellungsverfahren erörterten. Tatsache ist, dass das Gehirn gut darin ist, seine Fehler selbst zu bemerken. Anfang der 1990er Jahre fiel Michael Falkenstein von der Universität Dortmund auf, dass die elektrischen Potenziale im Stirnlappen einer Versuchsperson um etwa zehn Mikrovolt sanken, wenn diese die falsche Taste auf einer Tastatur anschlug. 2 Patrick Rabbitt von der University of Manchester stellte fest, dass Tippfehler mit ein bisschen weniger Druck ausgeführt werden als richtige Anschläge, so, als würde das Gehirn in der letzten Sekunde unbewusst versuchen, den Anschlag abzubrechen. 3 Anders gesagt: Das Gehirn kann durch einen Komplex von Rückkopplungsmechanismen Fehler erkennen, noch während es sie begeht. Daher ist es gemeinhin eine gute Idee, bei einer Prüfung die

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