Das soziale Tier
Bescheidenheit
Intuition und Logik sind wechselseitig aufeinander bezogen und ergänzen sich partnerschaftlich. Die Herausforderung besteht darin, diese Partnerschaft zu gestalten, zu wissen, wann man auf das Unbewusste vertrauen, wann man auf das Bewusstsein setzen und wie man den Austausch zwischen den beiden organisieren sollte. Die Forschung liefert noch keine klaren Antworten darauf, aber sie legt doch eine bestimmte Einstellung nahe – eine Einstellung, die die Schwächen des Bewusstseins anerkennt, während sie zugleich Handlungsstrategien aufzeigt.
Als Harold versuchte, die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit der britischen Aufklärung Erica als intellektuelles Rüstzeug nahezubringen, betonte er ein Konzept, das für das Denken der britischen Aufklärung von zentraler Bedeutung war: epistemologische Bescheidenheit. Die Epistemologie beschäftigt sich mit der Frage, woher wir wissen, was wir wissen. Epistemologische Bescheidenheit ist das Wissen darum, wie wenig wir wissen und wissen können.
Epistemologische Bescheidenheit ist eine Einstellung zum Leben. Diese Einstellung basiert auf der Einsicht, dass wir uns selbst nicht kennen. Der größte Teil unserer mentalen Prozesse entzieht sich dem Zugriff des Bewusstseins. Wir sind uns selbst unser größtes Geheimnis.
Doch nicht genug damit, dass wir uns selbst nicht kennen – es fällt uns auch schwer, andere wirklich zu verstehen. In ihrem Roman Felix Holt forderte George Eliot die Leser auf, sich vorzustellen, wie ein Schachspiel aussehen würde, wenn alle Schachfiguren ihre ganz individuellen Vorlieben und Gedanken hätten, wenn man also nicht nur in Bezug auf die Figuren seines Gegners, sondern auch in Bezug auf das Verhalten seiner eigenen Figuren unsicher sein müsste. Man hätte keine Chance, wenn man sich in einem solchen Spiel auf mathematische Strategien verlassen müsste, schrieb sie, und doch sei dieses imaginäre Spiel viel leichter als das Spiel, das wir im wirklichen Leben spielen. 35
Da wir andere nicht voll und ganz verstehen, können wir den Umständen auch nicht wirklich auf den Grund gehen. Kein Ereignis lässt sich losgelöst von seinem Ort im Fluss der Geschichte verstehen – der unendlichen Zahl vorhergehender Ereignisse, kleinster Ursachen und Dinge, die sich in sichtbarer und unsichtbarer Weise auf das Ereignis auswirken.
Und doch erzeugt diese epistemologische Bescheidenheit nicht unbedingt Passivität. Die Bescheidenheit geht mit einer Bereitschaft zum Handeln einher. Menschen mit einer solchen Gesinnung glauben, dass die Einsicht in unsere eigene Unwissenheit der Anfang von Weisheit ist. Wir können Gewohnheiten, Vereinbarungen und Verfahren entwerfen, die die Beschränkung unseres Wissens teilweise wettmachen.
Diese Bescheidenheit beginnt mit der Anerkennung der Tatsache, dass es nicht die eine richtige Methode zur Lösung von Problemen gibt. Es ist wichtig, sich auf quantitative und rationale Analysen zu stützen, doch auf diese Weise erhält man nur einen Teil der Wahrheit, nicht die ganze.
Würde man zum Beispiel gefragt, an welchem Tag im Frühjahr Mais ausgesät werden sollte, könnte man sich einerseits an einen Wissenschaftler wenden. Man könnte die Großwetterlage berechnen, die historischen Aufzeichnungen zurate ziehen und den optimalen Temperaturbereich sowie das optimale Datum für jeden Breitengrad und jede Höhenlage berechnen. Andererseits könnte man aber auch einen Bauer fragen. Es gibt in Nordamerika eine Bauernregel, wonach man Mais pflanzen sollte, wenn die Blätter der Eiche so groß sind wie das Ohr eines Eichhörnchens. 36 Unabhängig von den Wetterverhältnissen in einem bestimmten Jahr führt diese Regel den Landwirt zum richtigen Datum.
Dies ist eine andere Art von Wissen. Es ist das Ergebnis der Integration und Synthese vielfältiger Dynamiken. Es bildet sich im Lauf der Zeit, erzeugt von einer Intelligenz, die assoziativ arbeitet – genau beobachtend, lose imaginierend, Gleiches mit Ungleichem und Gleiches mit Gleichem in Beziehung setzend, um so die Harmonien und Rhythmen in der Kette der Ereignisse zu erkennen.
Der epistemologisch bescheidene Mensch benutzt beide Methoden und daneben noch weitere. Der bescheidene Mensch lernt, nicht einem Bezugssystem allein zu vertrauen. Den größten Teil seines Wissens häuft er im Lauf eines langen und mühsamen Umherwanderns an.
Der Bescheidene ist geduldig. Seine Methode lässt sich mit dem Verhalten von Grundeln vergleichen. 37 Die Grundel ist ein
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