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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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automatisch zwischen der äußeren Textur ihres Lebens – ihrem Schmuck, ihrer Kleidung und ihren Andenken – und dem, was er intuitiv von ihren inneren Hoffnungen und Zielen erfasst.
    Unterdessen läuft das Unbewusste auf Hochtouren, vermengt Daten, sucht unentwegt nach Ähnlichkeiten und Rhythmen. Es entwickelt nach und nach ein Gefühl für diese neue Landschaft: Wie ist der Lichtfall? Wie grüßen sich die Menschen? In welcher Geschwindigkeit läuft hier das Leben ab? Das Unbewusste versucht nicht nur die Individuen zu erkennen, sondern auch die Muster ihres Sozialverhaltens. Wie eng arbeiten diese Menschen zusammen? Was lautet die gemeinsame, unausgesprochene Konzeption von Autorität und Individualität? Es geht nicht nur darum, die Fische im Fluss zu beschreiben, sondern auch die Eigenart des Wassers, in dem sie schwimmen.
    Irgendwann kommt ein Moment der Ruhe, und verschiedenartigste Beobachtungen vereinigen sich zu einem kohärenten Ganzen. Der Wanderer kann vorhersagen, wie Menschen ihre Sätze beenden. Er verfügt jetzt über mentale Karten. Die Konturen seiner mentalen Landschaft decken sich mit den Konturen der Wirklichkeit an diesem neuen Ort. Manchmal wird diese Deckungsgleichheit nach und nach erreicht. Manchmal gibt es Inspirationsschübe, und die Karte wird auf einmal scharf. Nach diesen Momenten reinterpretiert das Gehirn alle alten Daten auf völlig neue Weise. Was unermesslich komplex erschien, wirkt mit einem Mal bestechend einfach.
    Zu guter Letzt – nicht nach kurzer Zeit, erst nach vielen Monaten oder Jahren mühsamer Beobachtung, mit Trockenzeiten und frustrierenden Längen – erreicht der Wanderer das, was die Griechen metis nannten. Dies ist ein Zustand der Weisheit, der aus der Kommunikation zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten hervorgeht.
    Metis lässt sich nur schwer in Worte fassen. Ein Mensch mit metis besitzt eine mentale Karte seiner individuellen Wirklichkeit. Er verfügt über einen Vorrat von Metaphern, die eine Tätigkeit oder eine Situation strukturieren. Er hat eine Reihe praktischer Fertigkeiten erworben, die ihn befähigen, Veränderungen vorherzusehen.
    Jemand, der metis besitzt, versteht die allgemeinen Merkmale, aber auch die Besonderheiten einer Situation. Ein Mechaniker versteht die generellen Eigenschaften sämtlicher Automodelle, doch zugleich entwickelt er schnell ein Gespür für jedes einzelne Auto. Ein Mensch mit metis weiß, wann er das Standardverfahren – die übliche Vorgehensweise – anwenden sollte, aber auch, wann es sinnvoller ist, sich über die Regeln hinwegzusetzen. Ein Chirurg mit metis hat ein besonderes Geschick für ein bestimmtes Verfahren, und er spürt intuitiv, was in jeder Phase der Behandlung schiefgehen kann. In der asiatischen Küche gibt es Rezepte, die vom Koch verlangen, die Zutaten dann beizufügen, wenn das Öl so heiß ist, dass es kurz davor ist zu brennen. Ein Koch mit metis weiß, welche Qualität das Öl annimmt, kurz bevor etwas anderes geschieht.
    In seinem berühmten, Tolstoi gewidmeten Essay Der Igel und der Fuchs beschreibt der Philosoph Isaiah Berlin eine bestimmte Konzeption der metis . Sie lasse sich, so schreibt er, »nicht durch eine besondere Untersuchung und Entdeckung, sondern durch eine nicht unbedingt ausdrückliche und bewusste Wahrnehmung gewisser allgemeiner Merkmale des menschlichen Lebens und Erfahrens« erreichen.
    Wir Menschen, so fährt er fort, lebten unser Leben inmitten eines bestimmten Flusses von Ereignissen, eines Mediums, in das wir getaucht seien. Wir können dieses Medium nun aber »nicht von außen beobachten, nicht identifizieren, messen und manipulieren und nicht einmal völlig wahrnehmen, weil es zu sehr mit unserer inneren Erfahrung zusammenhängt und zu eng mit allem, was wir sind und tun, verwoben ist, um aus dem Fluss (es ist der Fluss) herausgehoben und mit wissenschaftlicher Sachlichkeit als Objekt betrachtet werden zu können. Von ihm, dem Medium, in dem wir uns befinden, werden unsere dauerhaftesten Kategorien, unsere Normen von Wahrheit und Falschheit, Wirklichkeit und Schein, Gutem und Bösem, Zentralem und Peripherem, Subjektivem und Objektivem, Schönem und Hässlichem, Bewegung und Ruhe, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Einheit und Vielheit bestimmt. […]
    Trotzdem, obwohl wir das Medium nur von einem (uns nicht gegebenen) Standpunkt außerhalb seiner untersuchen könnten (aber es gibt kein ›draußen‹), nehmen manche Menschen besser als andere – auch wenn

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