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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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sie es nicht beschreiben können – das Gewebe und die Richtung dieser ›überfluteten‹ Teile ihres eigenen Lebens und des Lebens von jedem anderen wahr, während die übrigen Menschen entweder von der Existenz des alles durchdringenden Mediums (des ›Lebensstromes‹) nicht wissen und zu Recht oberflächlich genannt werden, oder versuchen, wissenschaftlichen, metaphysische oder andere Instrumente, die sich nur für den vergleichsweise bewussten und manipulierbaren Teil unserer Erfahrung eignen, darauf anzuwenden. Sie kommen daher zu absurden Theorien und erleben demütigende Misserfolge in der Praxis.«
    Weisheit, so Berlins Schlussfolgerung, »ist keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern eine besondere Empfänglichkeit für die Konturen der Umstände, in denen wir uns nun einmal befinden, sie ist eine Fähigkeit zu leben, ohne mit einem Umstand oder einem Faktor in Konflikt zu geraten, der dauerhaft ist und nicht verändert oder auch nur erschöpfend beschrieben oder eingeschätzt werden kann, sie ist eine Fähigkeit, sich von Faustregeln – der ›uralten Weisheit‹, die sich bei den Bauern und anderen ›einfachen Leuten‹ finden soll – leiten zu lassen, wo wissenschaftliche Regeln grundsätzlich nicht anwendbar sind. Dieser unaussprechliche kosmische Orientierungssinn ist der ›Wirklichkeitssinn‹, das ›Wissen‹, wie zu leben sei.« 39
    Harold las Erica diese Passage aus Berlins Essay eines Abends vor, und das, obwohl der Abschnitt recht abstrakt formuliert ist, Erica müde war und er sich nicht sicher war, wie viel davon sie wirklich aufnahm.

Kapitel 16 Der Aufstand
    Raymond und Erica gewöhnten sich an, um 11.45 Uhr in der Cafeteria zu Mittag zu essen (Raymond war ein Frühaufsteher, aber er erklärte sich bereit, Erica zuliebe seine übliche Mittagszeit um 45 Minuten hinauszuschieben). Schon bald schlossen sich andere Gleichgesinnte an und aßen ebenfalls so früh. Innerhalb weniger Wochen saßen 20 bis 30 Leute vor zwölf Uhr in einer Ecke der Cafeteria und nahmen zusammen ihr Mittagsessen ein.
    Es war eine ungewöhnliche Mischung von Generationen. Sie setzte sich zusammen aus Ericas Freunden, die alle in ihren Dreißigern waren, und alten Freunden von Raymond, die in ihren Fünfzigern und Sechzigern waren. Den größten Teil der Zeit plauderten sie lediglich über die letzte Dummheit von Taggert. Eines Tages kündigte das Unternehmen einen Einstellungsstopp an. »Das wird nicht funktionieren«, bemerkte Raymond mit einem Lächeln. »Leute werden einfach Aushilfen und Praktikanten anstellen und weiterbeschäftigen. Wir haben Praktikanten, die seit fünf oder zehn Jahren bei uns arbeiten. Wenn man sie als Praktikanten einstellt, kann man sie bezahlen, ohne ein zusätzliches Formular verschicken zu müssen, sodass der Einstellungsstopp nicht greift.«
    Raymond war auf einer Ranch in Nord-Minnesota zur Welt gekommen und hatte sein Leben lang die aktuellen Modetrends verpasst. Wenn man sein Leben verfilmt hätte, wäre seine Rolle mit Gene Hackman besetzt worden.
    Zwischen ihm und Erica bildete sich schon bald eine Arbeitsteilung heraus. Raymond kommentierte den Mist, den Taggert und sein Team bauten, während Erica die Revolution vorbereitete. Sich selbst überlassen, hätte Raymond sich damit begnügt, höhnische Kommentare über den vorangegangenen Vorfall zu machen, Erica aber wollte handeln. Taggert zerstörte alles, was andere aufgebaut hatten. Sie hatte noch Jahrzehnte vor sich und wollte nicht, dass ihr Berufsleben von ihrer eigenen Firmenpleite und dem Zusammenbruch eines Großunternehmens, dessen Expansion sie eigentlich hatte fördern sollen, überschattet würde. Und noch etwas anderes trieb sie an. Seit ihrer Kindheit wusste sie, wie es sich anfühlte, wenn man in jedem Laden, den man betritt, so angesehen wird, als wäre man das, was es dort gibt, nicht wert. Die Vorstellung, von diesem Team überqualifizierter Schwachköpfe herablassend behandelt zu werden, rief einen solchen Zorn in ihr hervor, dass sie dadurch mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde.
    Tag für Tag bedrängte sie Raymond: »Wir müssen etwas tun! Wir können hier nicht nur sitzen und reden.« Schließlich erklärte er sich einverstanden – mit einigen Einschränkungen.
    Raymond verspeiste ein mit Kalbszunge belegtes Sandwich, wie er es jeden Tag kaufte, und trank dazu ein Cream Soda. Er war bereit, mit ihr zusammen einen Vorschlag mit neuen Strategien zu erarbeiten, die das Unternehmen ausprobieren

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