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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Chance
    Einige Jahre lang litt Harold an einer leichten Depression. Er schrieb weiterhin Bücher und organisierte Ausstellungen, aber seltsamerweise deprimierte es ihn, wenn er für seine Arbeit gelobt wurde. Öffentliche Bewunderung ließ seine innere Einsamkeit nur umso deutlicher hervortreten.
    Seine Ehe hielt Winterschlaf. Er hatte keine Kinder. Er engagierte sich weder politisch noch sozial. Er hatte nichts, wofür es sich Opfer zu bringen lohnte, nichts, dem er seine eigenen Interessen gern untergeordnet hätte. Und natürlich war Erica immer in der Nähe und diente als sein Gegenpart. Er begann ihre Monomanie und ihren Elan zu verachten, und außerdem stimmte es ihn traurig, dass ihm ihre Tatkraft und ihr Antrieb fehlten.
    Bevor er zu Bett ging, hatte er schon immer noch einen Drink genommen. Aber in dieser Phase begann er schon früher am Tag zu trinken. Scotch wurde zu seinem Koffein. Sein Gehirn fühlte sich die meiste Zeit erschöpft und schlaff an, aber wenn er ein Glas Scotch vor sich hatte, erlebte er diesen Moment des Erwachens, in dem die Ideen hervorsprudeln und alles ganz klar und deutlich wird. Natürlich wurde bald darauf alles wieder verschwommen, und er verfiel in eine der melodramatischen Stimmungen, die besser waren, als gar nichts zu empfinden.
    Beinahe täglich trank Harold eine drittel Flasche Scotch. Morgens nach dem Aufwachen schwor er sich, sein Leben zu ändern. Aber die Sucht schwächt den Lernmechanismus im Gehirn. Alkoholiker und andere Suchtkranke begreifen durchaus, was sie sich selbst antun, aber sie sind offensichtlich nicht in der Lage, dieses Wissen so zu verinnerlichen, dass daraus eine dauerhafte Verhaltensänderung resultierte. Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass dieses Unvermögen darauf zurückzuführen ist, dass die neuronale Plastizität in ihrem präfrontalen Cortex beeinträchtigt ist. Sie könnten, heißt es, nicht länger aus Fehlern lernen.
    Eines Tages – einem Tag wie viele andere – hatte Harold eine Einsicht. Es war eine ganz ähnliche Einsicht, wie Erica sie an dem Tag gehabt hatte, als sie vor vielen Jahren ihre Aufnahme auf die Academy durchzusetzen versuchte. Ihm wurde klar, dass er dieses gewohnheitsmäßige Trinken nicht aus eigener Kraft überwinden konnte, dass er sich aber in ein Umfeld begeben konnte, das vielleicht Verhaltensänderungen auslösen würde. Er beschloss, zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker zu gehen.
    Für einen Einzelgänger wie ihn war das schwierig. Aber eines Tages kreuzte er bei einem Hockey-Spielfeld für Kinder auf, wo in einem Nebenraum gerade eine Gruppe der AA ihr abendliches Treffen abhielt. Er ging hinein und fand sich selbst in einer Situation wieder, gegen die sich alles in ihm sträubte.
    Harold hatte den größten Teil seines Lebens mit wohlhabenden und gut ausgebildeten Menschen verbracht, und jetzt saß er plötzlich in einem Raum mit Sachbearbeitern, Vertretern und Busfahrern (erstaunlich vielen Busfahrern) zusammen. Er hatte sich daran gewöhnt, in seiner eigenen Welt zu leben, und hier wurde er nun in eine tiefe Verbundenheit mit anderen hineingezwungen. Harold war in einer Kultur der Selbstachtung und der Eigenverantwortung aufgewachsen, aber hier war er gezwungen, sich völlig auszuliefern, Schwäche und Ohnmacht zuzugeben. Harold hatte in den letzten Jahren nicht aus seinen Fehlern gelernt, und nun führte ihm das Zwölf-Schritte-Programm seine Fehler schmerzlich vor Augen. Er musste sich immer wieder in ihnen wälzen. Harold war im Lauf der Jahre immer mehr vom Glauben abgerückt, aber diese Gruppe war von einer unbestimmten Religiosität durchdrungen. Die Menschen hier forderten ihn nicht einfach auf, mit dem Trinken aufzuhören. Es war kein diskreter und rationaler Versuch, dieses eine Problem zu lösen. Sie riefen ihn auf, seine Seele zu reinigen, die geheimsten Winkel seines Herzens und seines Wesens umzuwandeln. Wenn er sein Leben von Grund auf verändern würde, wäre die Alkoholabstinenz ein erfreuliches Nebenprodukt.
    Harold las die zwölf Schritte. Er drehte nicht durch. Letztlich aber waren es die Menschen in der Gruppe, die ihn retteten. Die meisten Betroffenen profitieren nicht von den Anonymen Alkoholikern. 7 Wissenschaftler können nicht vorhersagen, wem die Treffen bei den AA helfen und wem nicht. Sie sind sich nicht einmal einig in der Frage, ob deren Programm anderen Programmen zur Bekämpfung des Alkoholismus überlegen ist oder ob es überhaupt irgendeinen positiven Effekt

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