Das soziale Tier
hat.
Das ist darauf zurückzuführen, dass sich die kameradschaftliche Verbundenheit innerhalb einer jeden Gruppe nicht auf eine Formel bringen, zwischen verschiedenen Gruppen vergleichen oder in einem sozialwissenschaftlichen Experiment nachvollziehen lässt, und die Qualität dieser Verbundenheit ist das, was wirklich zählt. Den spirituellen Kern von Harolds Gruppe bildeten drei Personen: eine enorm übergewichtige Dame, die die Oper liebte, ein Motorrad-Mechaniker und ein Bankkaufmann. Die drei kannten sich mittlerweile seit fast zehn Jahren und gaben den Ton an. Mit leerem Gewäsch brauchte man ihnen nicht zu kommen. Ein Teenager aus der Gruppe war gestorben, nachdem er sich den ganzen Körper mit Antidepressiva-Pflastern beklebt hatte. Sie halfen allen dabei, das Trauma zu überwinden. Es gab immer ein paar Leute, die sich in den Haaren lagen. Die Anführer setzten Verhaltensrichtlinien durch. Harold bewunderte sie mehr und mehr und nahm sie sich zum Vorbild.
Mehrere Monate ging er fast täglich in die Gruppe, danach nur noch sporadisch. Zu behaupten, die Gruppe habe sein Leben verändert, wäre übertrieben, aber er erlebte sie als sehr hilfreich. Einige der Leute dort waren narzisstisch. Viele waren unglaublich unreif. Viele hatten ihr Leben gründlich verpfuscht. Aber die Sitzungen zwangen ihn dazu, über sich selbst zu reden. Er musste sich die nagenden Bedürfnisse in seinem Inneren stärker bewusst machen. Er bemerkte, wie er zu Menschen aufsah, die weniger intellektuell und weniger gebildet waren als er. Einige emotionale Fähigkeiten, die seit seiner Zeit auf der Highschool versandet waren, konnte er wiederbeleben. Er entwickelte ein besseres Gespür für seine Stimmungsschwankungen.
Er hörte nicht auf zu trinken, aber er trank jetzt nie vor 23 Uhr. Was sich wirklich veränderte, war sein verkümmertes Gefühlsleben. Aus irgendeinem Grund war er im Laufe seines Lebens überempfindlich gegen emotionale Unruhe geworden. Bei der kleinsten Irritation zog er sich zurück. Er mied unangenehme Situationen. Er entzog sich Konfrontationen, die Wut, Schmerz oder andere negative Gefühle in ihm hervorrufen konnten. Jetzt hatte er etwas weniger Angst davor. Er konnte diesem verborgenen Phantom jetzt direkt ins Gesicht sehen. Er musste nicht in der Angst vor Depression und Verletzung leben. Er wusste, dass er sich dieser Angst stellen und sie überleben konnte.
Das Camp
Sein Einsatz für das Incarnation Camp verdankte sich dem Zufall. Ein Freund fuhr nach Connecticut, um seine Tochter zu besuchen, die dort als Jugendbetreuerin arbeitete, und er fragte Harold, ob er Lust habe, ihn auf der Fahrt zu begleiten. Im ländlichen Connecticut bogen sie von einer Überlandstraße in eine lange unasphaltierte Zufahrt ab, auf der sie an Zelten, Feldern und Teichen vorbeikamen. Sie begegneten einer Gruppe neunjähriger Mädchen, die sich an den Händen haltend die Straße entlangspazierten. Harold betrachtete sie mit der sanften Wehmut, die in diesen Tagen fast immer in seinem Blick lag, wenn er Kinder sah. Sein Freund parkte neben einer Hütte, und er und Harold stapften eine Böschung hinunter zum Strand eines langgestreckten Sees, der von bewaldeten Hügeln umgeben war. Man sah weder Häuser noch Straßen. Das Camp war eine Welt für sich, 320 Hektar Wildnis.
In dem Camp waren reiche und arme Kinder gleichermaßen anzutreffen. Einige kamen aus Privatschulen in Manhattan, andere stammten aus Brooklyn oder der Bronx und konnten sich diese Ferienfreizeiten nur durch Spenden leisten. Im Lauf der Zeit wurde Harold klar, dass das Camp die einzige wirklich sozialintegrierte Institution war, die er je kennengelernt hatte.
Als Erstes fiel ihm auf, dass die Ausstattung alt und abgenutzt wirkte. Universalcamps wie dieses standen im Zeitalter der Spezialisierung vor schwerwiegenden Herausforderungen, denn die meisten Eltern bevorzugten mittlerweile Spezialangebote, die den Lebenslauf aufpolierten – Computercamps, Musikcamps oder Baseballcamps. Der Zeitgeist schien aber auch einer Gegenkultur förderlich zu sein. Hier herrschte fast eine Hippie-Mentalität. An diesem ersten Tag sah Harold Betreuer und Kinder, die alte Folksongs aus den Sechzigern sangen – »Puff the Magic Dragon« und »One Tin Soldier«. Harold sah auch einige erstaunlich gute Basketballspiele. Vor allem aber sah er Körperkontakt. Die Camper und die Betreuer tollten herum wie Bonobos. Sie lungerten dicht gedrängt herum, flochten sich gegenseitig die Haare
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