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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Bedürfnisse anderer.« 2 Und selbstredend werden auch Männer nicht plötzlich fürsorglicher und kommunikativer, wenn sie und ihre Partnerinnen die 50 erreichen.
    Erica war zu einem regelrechten kleinen Star in der Geschäftswelt geworden. Intercom hatte sich wieder erholt und schrieb kontinuierlich schwarze Zahlen. Sie reiste von Konferenz zu Konferenz und hielt ihre Vorträge vor bewundernden Zuhörern. Dann war es für sie immer irgendwie eine Enttäuschung, nach Hause zu kommen und Harold in Shorts und T-Shirt zu sehen, wie er auf den Tasten seines Computers herumhämmerte. Sie hatten sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Erica war gern auf Achse, sie liebte es, wenn ihre Tage dicht mit Besprechungen, Arbeitsessen und sonstigen Verpflichtungen vollgestopft waren. Harold hingegen war gern allein, vertiefte sich voller Begeisterung in irgendeine frühe historische Epoche und hatte keinerlei Termine. Erica wurde voll und ganz von den Herausforderungen in Anspruch genommen, die ihre Führungsposition mit sich brachten. Harold verlor sich mehr und mehr in seiner Welt der Bücher, historischen Persönlichkeiten und Dokumente.
    Seine einstmals liebenswerten Marotten kamen Erica jetzt zunehmend wie tiefgreifende Charakterfehler vor. War seine Gewohnheit, seine Socken in der Diele auszuziehen und liegen zu lassen, nicht ein Anzeichen tiefer Selbstsucht und einer narzisstischen Persönlichkeit? War seine Neigung, sich nicht zu rasieren, nicht ein Zeichen ausgeprägter Faulheit? Harold seinerseits war manchmal entsetzt über Ericas zwanghaftes Bedürfnis, jedem zu schmeicheln, der für ihr Unternehmen von Nutzen sein konnte. Wenn sie ihn zu Empfängen und Partys mitschleppte, ließ sie ihn regelmäßig schon nach wenigen Minuten stehen. Er blieb dann in belanglosen Gesprächen hängen, und wenn er sich im Raum umsah, stand sie meilenweit entfernt und scherzte mit irgendeinem Manager, den sie insgeheim vermutlich verabscheute. Die Kompromisse, die sie einging, um voranzukommen, kränkten ihn manchmal. Sie wiederum nahm ihm seine selbstgefällige Passivität übel.
    William James schrieb einmal, die Kunst der Weisheit bestehe in der »Kunst, zu wissen, was man übersehen sollte«. 3 In den ersten Jahren ihrer Ehe mochten sie über ihre Fehler gegenseitig hinweggesehen haben, jetzt aber registrierten sie diese im Stillen mit einer gewissen Verachtung.
    Im Lauf der Jahre verlernten sie es regelrecht, richtig miteinander zu reden oder sich auch nur in die Augen zu sehen. Erica verbrachte die Abende am Telefon in der einen Ecke ihres Hauses, während Harold in einer anderen vor seinem Laptop saß. So, wie sie nach ihrer Heirat alles miteinander geteilt hatten, so teilten sie jetzt überhaupt nichts mehr. Manchmal wollte Erica ihm irgendeinen Gedanken mitteilen, aber ihre Beziehung hatte mittlerweile eine ungeschriebene Verfassung. Danach wäre es jetzt einfach unangemessen gewesen, mit irgendeiner enthusiastischen Idee oder einer seltsamen Begebenheit in sein Büro hineinzuschneien.
    Harold schien ihr nicht mal zuzuhören, wenn sie mit ihm sprach. Etwa einmal pro Woche erinnerte ihn Erica an eine Party oder andere Veranstaltung, zu der sie ihr Kommen zugesagt hatte. »Du hast mir nie etwas davon gesagt«, antwortete er mürrisch.
    »Doch, das habe ich. Wir haben darüber gesprochen. Du hörst mir einfach nicht zu«, gab sie zurück.
    »Das bildest du dir ein. Wir haben nie darüber gesprochen.« Beide verhielten sich so, als wären sie sich sicher, recht zu haben, aber tief im Innern fragten sie sich beide, ob sie nicht langsam den Verstand verloren.
    Der Ehe-Experte John Gottman behauptet, in einer gesunden Beziehung machten die Partner für je eine negative Bemerkung dem anderen gegenüber fünf positive. 4 Harold und Erica waren weit von dieser Quote entfernt. Ja, im Grunde konnte man diese Messlatte gar nicht an sie anlegen, da sie überhaupt nicht viele Bemerkungen zueinander machten, weder positive noch negative. Beide wollten irgendwie zu den alten Zeiten zurückkehren, als sie sich liebevoll umeinander kümmerten, aber sie befürchteten, der andere würde sie abweisen, wenn sie es versuchten. Und so zogen sie sich noch weiter voneinander zurück. Beide machten die Charakterfehler des jeweils anderen dafür verantwortlich, dass ihre Beziehung verkümmerte. Beide träumten davon, dass sie eines Tages zu einem Eheberater gehen würden, und der Eheberater würde ihren Standpunkt, dass es ganz allein die Schuld des

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