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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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und rauften miteinander. Sie spielten Marco Polo im See.
    Er lernte den Leiter des Camps kennen, der das Funkeln in Harolds Augen sah und ihn fragte, ob er sich vorstellen könne, hier als Freiwilliger zu arbeiten. Harold besuchte das Camp in jenem Sommer noch zweimal und half ein paar ungewohnte Arbeiten zu erledigen, wie etwa ein paar Teenager beim Square Dance zu beaufsichtigen. Den Winter über sammelte er Geld für ein Schwimmdock. Im darauffolgenden Sommer unternahm er Wochenendabstecher ins Camp und half bei der Instandsetzung der Wanderpfade. Einmal verfolgte er ein Softballspiel. Die Kids spielten ausgezeichnet Basketball, aber im Softball waren sie eine Katastrophe. Einigen hatten nie gelernt, richtig zu werfen. Harold organisierte ein Softball-Programm und stellte sogar ein Team von Ausbildern zusammen.
    Anfang August fragte ihn der Camp-Leiter, ob er vielleicht fünf Tage erübrigen könne, um die Führung einer Kanufahrt den Connecticut River hinunter zu übernehmen. An der Fahrt nahmen 15 Teenager, zwei Betreuer – College-Studenten – und Harold teil. Er war 30 Jahre älter als alle anderen, aber er passte perfekt in die Gruppe.
    Unterwegs organisierte er kleine Wettbewerbe. Er brachte ihnen Lieder bei und hörte zum ersten Mal etwas von Katy Perry und Lady Gaga. Abends nannten sie ihn »Daddyo«, und in der ernsten, sensiblen, aber offenen Art von Teenagern erzählten sie ihm von ihren Problemen – über ihr Liebesleben, die Scheidungen ihrer Eltern, ihre Unsicherheit, was von ihnen erwartet wurde. Harold war so berührt, dass sie ihm vertrauten. Er hörte ihnen mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Die Kids schienen dringend Autoritätsfiguren zu brauchen. Er nahm an, dass Lehrer und andere Fachleute wussten, was sie sagen sollten, wenn Jugendliche ihnen von ihren Problemen und Ängsten erzählten. Er wusste es definitiv nicht.
    Der letzte Tag der Kanufahrt war anstrengend. Sie paddelten den ganzen Tag gegen einen starken Wind. Harold sagte den Kids, dass sie, wenn sie ihr Ziel erreichten, den übrig gebliebenen Proviant nehmen und damit eine Art Tortenschlacht veranstalten dürften. Als sie am letzten Zeltplatz ankamen, stürzten sich alle auf die unverbrauchten Vorräte und begannen sich damit zu bewerfen. Kleine Erdnussbutterklöße schwirrten durch die Luft. Alle Hemden waren mit Marmelade beschmiert. Aus Backmischungen wurde zäher Teig zubereitet, aus dem anschließend warme Schneebälle geformt wurden. Die Jugendlichen, die Betreuer und Harold versteckten sich hinter Bäumen, legten Hinterhalte mit Hackbraten und wehrten Attacken mit Orangensaftpulver ab.
    Als die Schlacht vorbei war, sahen sie alle schlimm aus, von Kopf bis Fuß mit klebrigem Schmutz überzogen. Sie nahmen sich bei den Händen und rannten in einer langen Reihe in den Fluss, um den Dreck abzuwaschen. Dann kamen sie heraus, zogen sich um und machten ihr letztes Lagerfeuer an. Harold hatte keinen Alkohol mit auf die Fahrt genommen und kehrte an diesem Abend nüchtern und gutgelaunt in sein Zelt zurück. Er lag in seinem Schlafsack und fühlte sich erschöpft und glücklich. Es ist interessant, wie schnell eine Stimmung umschlagen kann. Auf einmal verwandelte sich etwas in ihm, und ihm war plötzlich nach Weinen zumute.
    Seitdem er erwachsen war, hatte er nicht mehr geweint, nur hin und wieder in der Dunkelheit am Ende eines traurigen Films. Und auch diesmal weinte er nicht. Er spürte ein Zittern in seinem Bauch und einen Druck in seinen Augenhöhlen, aber Tränen flossen keine. Stattdessen hatte er dieses merkwürdige Gefühl, sich vorzustellen, wie er weine. Er schwebte über seinem Körper und erhaschte einen flüchtigen Blick von sich, wie er sich in seinem Schlafsack zusammenkrümmte und schluchzte.
    Und dann ging es vorbei. Er dachte über das Leben nach, das er tatsächlich lebte, und das, was er sich gerne aufgebaut gehabt hätte, wenn er etwas offener und mutiger im Kontakt mit anderen gewesen wäre. Schließlich schlief er ein.

Kapitel 18 Moral
    Erica hatte noch nie zuvor einen Hotelkorridor gesehen, der von »Ärmelsprechern« gesäumt wurde. Sie fuhr in den obersten Stock des Parabola, mit Blick auf den Central Park in New York, und als sie den Aufzug verließ, sah sie Leibwächter, die auf beiden Seiten des Flurs breitbeinig in den Türen der Hotelzimmer standen, sich gegenseitig reglos ansahen und hin und wieder in ihre Ärmel hineinsprachen, um den neuesten Stand abzufragen. In den Suiten wohnten saudische

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