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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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anderen sei, voll und ganz bestätigen.
    Bei der Arbeit und bei Abendgesellschaften waren sie noch immer fröhlich, und sie nahmen an, dass niemand auch nur ahnte, wie es bei ihnen zu Hause aussah. Aber das stimmte nicht. Harold erzählte eine Geschichte, und wenn er fertig damit war, platzte es aus Erica heraus: »So ist es nicht gewesen!«, und alle spürten die Härte in ihrer Stimme.
    Beide wurden immer deprimierter. Erica weinte, während sie sich das Haar föhnte. Sie fragte sich, ob es sich lohnen würde, ihre höchst erfolgreiche Karriere gegen das häusliche Glück einzutauschen. Harold sah hin und wieder Paare in seinem Alter, die Händchen haltend spazieren gingen. Das war für ihn mittlerweile unvorstellbar. Für Harold wie für Erica war die Arbeit die tiefste Quelle der Befriedigung, aber das genügte nicht. Harold war nicht in Versuchung, Selbstmord zu begehen, aber wenn man ihm eröffnet hätte, dass er an einer tödlichen Krankheit leide, dann, so glaubte er, hätte er diese Nachricht mit Gleichmut aufgenommen.
    Einsamkeit
    Die Beziehung zwischen Harold und Erica war völlig widersinnig. Beide wollten ihre Ehe retten, doch stattdessen waren sie in einer Reihe negativer Rückkopplungsschleifen gefangen. Da war zum einen die Einsamkeitsschleife. 5 Menschen, die sich einsam fühlen, sind gegenüber ihren Mitmenschen im Allgemeinen kritischer. Sie beurteilen andere sehr streng und werden dadurch noch einsamer. Hinzu kam die Traurigkeitsschleife. Beide fühlten sich emotional instabil, und beide erlebten die Gegenwart des jeweils anderen nicht als aufbauend, sodass sie sich aus einem emotionalen Überlebensinstinkt heraus noch weiter zurückzogen. Dann war da die Fatalismusschleife. Menschen, die glauben, sie könnten sowieso nichts mehr ändern, werden noch passiver und deprimierter.
    Harold nahm zu in dieser Zeit, insbesondere um den Bauch herum, wo sich stressbedingte Gewichtszunahme am ehesten zeigt. Er trank zu viel. Wie es seine Gewohnheit war, machte er auch seine Traurigkeit zu einem philosophischen Problem. Er verlor sich in der stoischen Philosophie. Er gelangte zu der Überzeugung, dass die Menschen nicht auf der Erde waren, um glücklich zu sein. Leben sei Leiden, sagte er sich selbst, und abgesehen von seiner Ehe habe es das Leben recht gut mit ihm gemeint. Er versuchte sich gegen das, was zu Hause geschah, unempfindlich zu machen, sich gegen seine Gefühle zu immunisieren.
    Erica sah ihre angeschlagene Ehe durch die Linse ihres beruflichen Erfolgs. Vielleicht beneidete Harold sie um das, was sie erreicht hatte. Vielleicht fühlte er sich gedemütigt und wollte seinen Frust an ihr auslassen. Als sie heirateten, war er der Gebildetere von ihnen beiden, aber jetzt besaß sie mehr Knowhow. Sie war diejenige, die mehr Aufmerksamkeit bekam. Sie war der leuchtende Star. Es war ein Fehler gewesen, jemanden zu heiraten, dem es völlig an Ehrgeiz mangelte, und jetzt bezahlte sie für ihre jugendliche Unüberlegtheit. Unbewusst wollte sie sich von diesem Problemfeld in ihrem Leben befreien. Sie verbrachte weniger Zeit zu Hause, und wenn sie dort war, zeigte sie sich reservierter, um nicht so leicht verletzlich zu sein.
    Einem Klischee zufolge werden die meisten Scheidungen im mittleren Lebensalter von Männern initiiert. Sie finden Trophäenweibchen und suchen das Weite. In Wirklichkeit werden über 65 Prozent der Ehescheidungen von Paaren jenseits der 50 von Frauen initiiert. 6 Viele stellen einfach fest, dass sie ihre Männer nicht mehr brauchen – die Hausarbeiten, die Pflichten, das Umsorgen der Männer, während sie in Sachen Zuwendung und Partnerschaftlichkeit nichts dafür zurückbekommen. Und so begann Erica in ihrer vorausschauenden, strategischen Art über die Zukunft nachzudenken; über eine mögliche Scheidung und deren Folgen für sich und für Harold. Wäre es möglich, eine Trennung ohne allzu große gegenseitige Verletzungen über die Bühne zu bringen?
    Trübsal
    Einen Tag nach einem Krach, der sich an einer Bagatelle entzündet hatte, erzählte Erica Harold, dass sie sich nach einer Wohnung umgesehen habe. Vielleicht sei es an der Zeit, dass sie sich scheiden ließen. Sie sprach mit analytischer Nüchternheit. Sie steuerten ja schon seit geraumer Zeit auf eine Scheidung zu, stellte sie fest. Vor zehn Jahren schon habe sie zum ersten Mal an Scheidung gedacht. Hätten sie doch nie geheiratet. Sie glaube nicht, dass sich ihre Beziehung jemals wieder einrenken lasse.
    Als ihr diese Worte

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