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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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geschlagen. Dann stand sie unvermittelt auf, strauchelte durch die Zimmer und stürzte zur Minibar in der Küche, wo sie nacheinander alle vorhandenen Scotchfläschchen öffnete. Ihren Schmerz konnten sie jedoch auch nicht lindern, dafür waren die Fläschchen zu klein. Erica fürchtete nicht, dass sich ihr Seitensprung herumsprechen würde. Sie hatte nicht einmal Angst vor möglichen Konsequenzen. In dieser Phase ihres Lebens spürte sie weder die Gegenwart noch das Urteil Gottes. Sie glaubte nicht einmal, dass »Schuld« das richtige Wort für dieses heftige emotionale Gewitter war. Es war einfach ein Schmerz, der am nächsten Tag, nach ein paar Stunden Schlaf, von dumpfer Mattigkeit und einem allgemeinen Gefühl der Verletzlichkeit abgelöst wurde.
    Die folgenden Tage lagen ihre Nerven blank. Sie hörte melancholische Musik von Tom Waits. Auf dem Rückflug konnte sie sich nicht auf ihre Arbeitsunterlagen konzentrieren, sondern las einen Roman von William Faulkner. Über Wochen war sie zerknirscht und niedergeschlagen, aber etwas in ihr hatte sich für immer verändert. Nie wieder beging sie Ehebruch, und schon der bloße Gedanke daran erfüllte sie mit einem unvorstellbaren Widerwillen.
    Moralische Empfindungen
    Herkömmlicherweise würde man diese Episode mit dem Hinweis kommentieren, Erica sei den Verlockungen einer egoistischen, kurzsichtigen Wollust erlegen. In ihrer Leidenschaft, ihrer Schwäche habe sie gegen das Gelübde verstoßen, das sie an ihrem Hochzeitstag Harold gegenüber abgelegt hatte.
    Diese traditionelle Einordnung basiert auf einigen weitverbreiteten alltagspsychologischen Anschauungen. Demzufolge sind unsere moralischen Entscheidungen das Ergebnis eines Machtkampfes. Auf der einen Seite stehen die egoistischen und primitiven Leidenschaften und auf der anderen steht die erleuchtete Kraft der Vernunft. Die Vernunft bewertet Situationen anhand logischer Maßstäbe, sie stützt sich auf moralische Grundsätze, löst moralische Dilemmata und leitet aus all dem eine angemessene Handlungsweise ab. Mit Hilfe der Willenskraft versucht die Vernunft dann die Leidenschaften zu kontrollieren. Wenn wir moralisch mustergültig handeln, bändigt die Vernunft die Leidenschaften und kontrolliert den Willen. »Sie sagt einfach nein«, wie es Nancy Reagan einmal formulierte. Wenn wir egoistisch und kurzsichtig handeln, haben wir entweder die Vernunft außen vor gelassen, oder aber die Leidenschaft hat die Vernunft schlichtweg übermannt.
    Nach dieser Auffassung ist das rationale Bewusstsein der Held, und die aus dem Unbewussten aufsteigende Triebregungen sind die Missetäter. Das Bewusstsein steht auf der Seite von Vernunft und Sittlichkeit, das Unbewusste auf der Seite der Leidenschaft, der Sünde und der Selbstsucht.
    Aber diese alltagspsychologische Metapher entsprach nicht dem, wie Erica ihre Eskapade mit Mister Schöner Schein erlebte. Als Erica in den Sex mit ihm hineinschlitterte und anschließend deshalb schlimmste Gewissenqualen litt, geschah das nicht, weil sie einer leidenschaftlichen Aufwallung erlegen wäre, sich danach besonnen und erkannt hätte, dass sie gegen einen ihrer Grundsätze verstoßen hatte. Genau genommen war sie in der Nacht danach, als sie sich vor Kummer in ihrem Bett hin und her warf, weit leidenschaftlicher gewesen als während der Verführung und der Sünde. Und es war auch sicher nicht deshalb, weil sie später die ungute Situation, in die sie sich gebracht hatte, noch einmal gründlich durchdacht und ihre Entscheidung bereut hätte. So fühlte es sich überhaupt nicht an. Die Reue war auf genauso rätselhafte Weise über sie gekommen wie die eigentliche Handlung.
    Erica erlebte den Vorfall nicht wie ein Drama zwischen Vernunft und Leidenschaft. Es war eher so, dass Erica die Situation mit Mister Schöner Schein, während er vor ihr stand, auf eine Art wahrgenommen hatte, während sich dann im weiteren Verlauf des Abends eine andere Wahrnehmung der Situation bei ihr durchsetzte. Irgendwie war eine Erlebnisweise durch eine andere ersetzt worden.
    Sie hatte beinah das Gefühl, zwei verschiedene Personen zu sein: Die eine hatte das Prickeln der Verführung genossen, die andere hatte sich dafür geschämt, der Verführung nicht widerstanden zu haben. Es war, wie es im Buch Genesis beschrieben wird, nachdem Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieben wurden. Ihnen wurden die Augen geöffnet, und sie sahen, dass sie nackt waren. Später prüfte sie ihr Gewissen und konnte sich ihr

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