Das soziale Tier
Spannung, Bewunderung oder Abneigung) und einer Verhaltensempfehlung (»lächeln« oder »nicht lächeln«, »sich nähern« oder »sich entfernen«), die uns dabei helfen, uns in unserem Alltagsleben zurechtzufinden.
Nehmen wir an, jemand, der Ihnen in einem Restaurant gegenübersitzt, berührt Ihre Hand. Augenblicklich werden die Datenbanken Ihres Gedächtnisses nach ähnlichen Ereignissen durchmustert. Vielleicht erinnern Sie sich an die Szene in Casablanca, als Humphrey Bogart die Hand von Ingrid Bergman berührt. Vielleicht erinnern Sie sich an eine lang zurückliegende Verabredung auf dem Gymnasium. Vielleicht erinnern Sie sich an ein Ereignis, das noch länger her ist, wie Ihre Mutter Sie als kleines Kind mit zu McDonald’s genommen und Sie dabei fest an der Hand gehalten hat.
Der Geist sortiert und codiert. Der Körper reagiert. Das Herz schlägt schneller. Der Adrenalinspiegel steigt. Das Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln. Signale fließen in komplexen Schleifen zwischen Körper und Gehirn hin und her. Das Gehirn ist nicht vom Körper getrennt – das war Descartes’ Irrtum. Körper und Geist sind über komplexe Netzwerke von Reaktionen und Gegenreaktionen miteinander verbunden, und aus deren Rückkopplungen geht eine emotionale Bewertung hervor. Die Berührung durch die Hand wurde bereits mit einer emotionalen Bedeutung versehen, mit etwas Positivem, Angenehmem.
Einen Augenblick später öffnet sich ein anderes System von Feedback-Schleifen. Das sind die höheren Rückkopplungsbahnen zwischen den evolutionär älteren Arealen des Gehirns und den jüngeren Regionen, wie dem präfrontalen Cortex. Der Informationsfluss innerhalb dieses Systems ist zwar langsamer, aber dafür differenzierter. Es kann die Reaktionen, die bereits innerhalb des ersten Systems erfolgten, aufnehmen und feinere Unterscheidungen zwischen ihnen vornehmen. (»Die Hand, die über den Tisch gestreckt wird und mich berührt, unterscheidet sich von der meiner Mutter. Sie gleicht eher der Hand von Menschen, mit denen ich Sex haben wollte.«) Es kann auch Warnungen generieren, die zu intelligenter Zurückhaltung veranlassen. (»Ich bin gerade so glücklich, dass ich diese Hand am liebsten packen und küssen würde, aber ich erinnere mich daran, dass andere Menschen ausflippen, wenn ich so was tue.«)
Auch in dieser Phase geschieht das meiste noch unbewusst, behauptet Joseph LeDoux, ein weiterer bedeutender Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Sie haben die Berührung durch eine Hand schon einmal gespürt und spüren sie nun abermals. Ihr Gehirn hat sie verarbeitet und bewertet. Ihr Körper hat reagiert, Pläne wurden entworfen, Reaktionen vorbereitet, und all diese komplexen Aktivitäten ereigneten sich unterhalb der Bewusstseinsschwelle und im Bruchteil einer Sekunde. Und dieser Prozess findet nicht nur bei einer Verabredung, ausgelöst durch die Berührung einer Hand, statt. Er läuft auch im Supermarkt ab, wenn Sie Ihren Blick über eine Reihe von Müsli-Schachteln gleiten lassen. Er vollzieht sich, wenn Sie im Internet mehrere Stellenangebote vergleichen. Das Emotionale Navigationssystem versieht jede Handlungsoption mit einer emotionalen Bewertung.
Und erst ganz am Ende dieser komplexen Rückkopplungen taucht plötzlich ein Wunsch im Bewusstsein auf – der Wunsch, dieses Müsli auszuwählen oder sich auf diese Stelle zu bewerben, diese Person zu berühren oder für immer mit diesem Menschen zusammen zu sein. Das Gefühl, das sich dann einstellt, kommt von ganz tief unten. Dabei ist es nicht unbedingt ein genialer Impuls – Emotionen führen uns manchmal in die Irre und manchmal klug in die richtige Richtung. Sie haben uns aber nicht in der Gewalt, man kann sich über sie hinwegsetzen. Dessen ungeachtet aber treiben sie uns an und leiten uns. So schreibt LeDoux: »Die Hirnzustände und die körperlichen Reaktionen sind die grundlegenden Tatsachen einer Emotion, und die bewussten Gefühle sind die Verzierungen, die dem emotionalen Kuchen zu einem Zuckerguss verhelfen.« 32
Konsequenzen
Dieses Modell der menschlichen Entscheidungsfindung führt zu ein paar grundlegenden Feststellungen. Verstand und Gefühl sind keine getrennten, gegensätzlichen seelischen Vermögen, im Gegenteil: Der Verstand ist eng mit der emotionalen Sphäre verschränkt und auf Emotionen angewiesen, um störungsfrei funktionieren zu können. Handlungsoptionen werden durch Emotionen gewichtet, und nur auf der Grundlage solcher emotionalen Bewertungen kann
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