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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Julia war das morgendliche Zeitunglesen eine soziale Beschäftigung, eine Gelegenheit für Gespräche und Beobachtungen über den Zustand der Welt. Wenn Rob in ein Lebensmittelgeschäft ging, kaufte er verschiedene Fertigprodukte: eine Packung Tortellini, eine tiefgefrorene Pizza, eine Quiche. Julia dagegen kaufte im selben Geschäft Zutaten: Eier, Zucker, Mehl. Rob nahm mit Verwunderung zur Kenntnis, dass sie 200 Dollar ausgeben konnte und trotzdem nichts fürs Abendessen mitgebracht hatte, wenn sie zurückkam.
    Diese Unterschiede störten sie aber nicht weiter, denn sie befanden sich in jener Anfangsphase ihrer Ehe, in der Paare noch die Zeit finden, zusammen joggen zu gehen und anschließend miteinander zu schlafen. In dieser Verfassung handelten sie langsam und sensibel die Geschäftsgrundlage ihrer neuen Beziehung aus.
    Als Erstes kam die Reiz-des-Neuen-Phase, in der sie die individuellen Gewohnheiten, mit denen jeder das Leben des anderen bereicherte, interessant und aufregend fanden. So war etwa Rob fasziniert von der Unzertrennlichkeit, die zwischen Julia und ihren Socken bestand. Julia war für jede erotische Aktivität zu haben, sofern sie dabei nur ihre Socken anbehalten konnte. Sie konnte sich in eine wilde, schweißtreibende Erregung hineinsteigern, doch ganz offensichtlich machte sich die verstärkte Durchblutung nicht in ihren unteren Extremitäten bemerkbar. Wollte man ihr die weißen Söckchen wirklich einmal abstreifen, war das ungefähr so, als wolle man dem Präsidenten der Nationalen Vereinigung der Waffenbesitzer ein Gewehr wegnehmen – man musste sie von ihren kalten, leblosen Zehen regelrecht herunterreißen.
    Julia wiederum kannte niemanden sonst, der wie Rob bei jedem Abstecher in einen Drogeriemarkt Zahnpasta kaufte. Rob kaufte jede Woche eine Tube, so als drohe eine Invasion von Marsmenschen, die es auf unsere Zahnpasta abgesehen hätten. Auch das, was seine Aufmerksamkeit erregte, amüsierte sie. Ereignisse, die sich Tausende von Kilometern weit weg abspielten – insbesondere wenn sie im Sportkanal übertragen wurden –, fand er wahnsinnig interessant, während ihn Dinge, die sich direkt auf seine Gefühle und seinen Gemütszustand auswirkten, nicht im Geringsten interessierten. Er konnte seine Aufmerksamkeit nicht richtig fokussieren.
    Allmählich traten sie in die zweite Phase der Kartenverschmelzung ein, das Planungsstadium für notwendige Veränderungen. Ein Haus, durch das ein tiefer Riss geht, ist einsturzgefährdet. Sowohl Rob als auch Julia ahnten, dass die Eigenheiten, die zu Beginn ihrer Ehe so reizend und liebenswert wirkten – Julias Angewohnheit, morgens um sechs noch im Bett den Laptop einzuschalten, Robs vorgeschützte Hilflosigkeit angesichts der kleinsten Hausarbeiten –, beim jeweiligen Partner Mordimpulse zeitigen würden, sobald sich die erste Aufwallung ehelichen Glücks legte.
    Und so begannen sie im Geiste kleine Checklisten mit der Überschrift »Dinge, die zu ändern sind« zu erstellen. Sie wussten allerdings auch, dass mit maoistischer Rigorosität hier nichts zu erreichen sein würde. Denn die sogenannten Kulturrevolutionen führen meist nur zu wütenden Gegenreaktionen und zu anhaltendem passiv-aggressiven Rückzug, was im Klartext hieß, dass sich die Gewohnheiten des anderen nur ganz allmählich würden verändern lassen.
    Insbesondere in den ersten Monaten beobachtete Julia Rob auf die gleiche Weise, wie Jane Goodall Schimpansen beobachtete: mit gespannter Aufmerksamkeit und fortwährendem Erstaunen über die Verhaltensweisen, die er an den Tag legte. Dieser Mann hatte absolut keinen Sinn für edle Käsesorten oder irgendwelche feinen Geschmacksunterschiede, doch sobald er sich in einem Einkaufszentrum einem Brookstone-Laden auf 150 Meter näherte, war er fasziniert von der Fülle an elektronischen Gadgets wie Minigolf-Anlagen mit automatischem Ballrücklauf. Er hielt sich für einen ordentlichen Menschen, aber Ordentlichkeit bestand für ihn darin, alles, was herumlag, aufs Geratewohl in die nächste verfügbare Schublade zu stopfen. Betätigte er sich als Heimwerker, las er nicht zuerst die Montageanleitung, sondern er packte den gesamten Bausatz nebst allen Schrauben und Muttern aus und verbrachte dann Stunden damit, auszutüfteln, welches Teil wohin gehörte. Er war scheinbar schlauer als jeder Footballtrainer, den er je gesehen hatte, aber ihm fehlte der Weitblick, um zu erkennen, dass es nachts für Probleme sorgen könnte, wenn man seine Schuhe

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