Das soziale Tier
er empfand nichts. So begann Damasio zu untersuchen, ob Elliots eingeschränkte Emotionalität bei seinen Fehlentscheidungen eine Rolle spielte.
Eine Reihe weiterer Tests ergab, dass Elliot durchaus in der Lage war, sich im Vorfeld einer Entscheidung verschiedene Optionen vorzustellen. Er verstand auch, dass es zwischen zwei moralischen Geboten zu Konflikten kommen kann, und er konnte sich darauf vorbereiten, angesichts einer großen Bandbreite von Möglichkeiten eine Wahl zu treffen. Was ihn überforderte, war die Wahl selbst. Er war nicht in der Lage, die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu gewichten. Damasio formulierte es folgendermaßen: »Seine Entscheidungslandschaft flachte völlig ab.« 28
Bei einem anderen Probanden von Damasio ließ sich das gleiche Phänomen in noch stärker ausgeprägter Form beobachten. Dieser Mann mittleren Alters hatte infolge einer Hirnverletzung ebenfalls seine emotionalen Funktionen verloren. Nachdem sie eine Sitzung in Damasios Büro beendet hatten, schlug Damasio ihm für ihr nächstes Treffen zwei alternative Termine vor. Der Mann zog seinen Kalender heraus und begann, das Für und Wider jeder Option aufzuschreiben. Fast eine halbe Stunde lang machte er so weiter; er listete mögliche Konflikte auf, mögliche Wetterverhältnisse an den beiden fraglichen Tagen und die Nähe zu anderen Terminen. »Wir mussten uns sehr beherrschen, um uns all das anzuhören, ohne mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und ihm zu sagen, er solle nun endlich zu einem Entschluss kommen«, berichtet Damasio. Aber er und seine Kollegen standen reglos dabei und beobachteten ihn. Schließlich unterbrach Damasio die Grübeleien des Mannes und nannte ihm kurzerhand einen Termin für ihr nächstes Treffen. Ohne zu zögern, sagte der Mann: »In Ordnung« und ging. 29
»Dieses Verhalten ist ein schönes Beispiel für die Grenzen der reinen Vernunft«, schreibt Damasio in seinem Buch Descartes’ Irrtum: 30 Es ist ein Beispiel dafür, dass ein Mangel an Emotionalität zu selbstzerstörerischen und gefährlichen Verhaltensweisen führt. Menschen ohne Emotionen führen kein straff durchgeplantes, streng logisches Leben nach dem Vorbild des kalten Verstandesmenschen Mister Spock, vielmehr leiden sie unter starken psychischen Defiziten. In Extremfällen werden sie zu Soziopathen, die auch Grausamkeiten kaltlassen und die unfähig sind, sich in den Schmerz anderer Menschen einzufühlen.
Auf der Basis dieser und anderer Experimente entwickelte Damasio eine Theorie über die Funktion von Emotionen für die menschliche Kognition – die sogenannte »Hypothese der somatischen Marker«. Einzelne Aspekte dieser Theorie sind umstritten – Wissenschaftler sind uneins darüber, wie stark Gehirn und Körper miteinander in Wechselwirkung stehen. Unberührt davon ist aber Damasios zentrales Argument, welches lautet, dass Emotionen Handlungsoptionen gewichten und uns daher eine unbewusste Orientierungshilfe für sämtliche Entscheidungen in unserem Leben sind – weg von Dingen, die wahrscheinlich mit Unlust verbunden sind, und hin zu Optionen, die uns wahrscheinlich Befriedigung verschaffen. »Somatische Marker nehmen uns das Denken nicht ab. Sie helfen uns beim Denken, indem sie einige (gefährliche oder günstige) Wahlmöglichkeiten ins rechte Licht rücken und sie rasch aus allen weiteren Überlegungen ausklammern. Sie können sich das Ganze als ein automatisches System zur Bewertung von Vorhersagen vorstellen, das die außerordentlichen verschiedenen Szenarien Ihrer antizipierten Zukunft beurteilt, ob Sie es wünschen oder nicht. Es handelt sich gewissermaßen um einen Tendenzapparat.« 31
Im Laufe eines Tages werden wir mit Millionen von Sinnesreizen bombardiert, einem überwältigenden Gewirr von Geräuschen, visuellen Eindrücken, Geruchsempfindungen und Bewegungen. Doch inmitten dieses chaotischen Feuerwerks interagieren verschiedene Teile des Gehirns und des Körpers miteinander und entwickeln auf diese Weise ein Emotionales Navigationssystem ( EPS ). Wie das Global Positioning System, das GPS , mit dem Ihr Auto vielleicht ausgerüstet ist, erfasst das EPS Ihre aktuelle emotionale Lage und gleicht sie mit der riesigen Datenmenge ab, die es in seinem Gedächtnis gespeichert hat. Es trifft bestimmte Urteile darüber, ob Ihre aktuelle Handlungsweise positive oder negative Ergebnisse zeitigen wird, und versieht dann jede Person, jeden Ort und jede Situation mit einer emotionalen Markierung (Furcht oder positive
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