Das soziale Tier
registriert. Ein Grinsen, einen Blick, einen gemeinsamen Scherz, eine bedeutungsvolle Pause – all diese stillen Gesten hatten sie dechiffriert. Sie hatten das Verhalten ihres Gegenübers durch einer Reihe von Rastern und Filtern laufen lassen und ihr eigenes ebenso wie das fremde Auftreten einer beständigen Bewertung unterzogen. Und fast minütlich hatten sie den anderen ein wenig mehr ins Herz geschlossen.
Rob und Julia konnten diese mentalen Herausforderungen nur deshalb so scheinbar einfach bewältigen, weil die gesamte Geschichte des Lebens auf der Erde sie auf genau diesen Moment vorbereitet hatte. So mussten sie auch keinen Kurs in sozialer Bindungstheorie belegen, bevor sie ihre Entscheidungen treffen konnten, wie man etwa einen Kurs in Algebra braucht, um Variablen berechnen zu können. Die mentale Arbeit wurde größtenteils unbewusst erledigt. Alles ging scheinbar mühelos, mit instinktiver Sicherheit über die Bühne.
Zu diesem Zeitpunkt konnten sie ihre Schlussfolgerungen noch nicht in Worte fassen, weil sich ihre vielfältigen Empfindungen nicht auf eine klare, eindeutige Botschaft bringen ließen. Die Entscheidung, sich zu verlieben, überkam sie gewissermaßen unverhofft. Sie hatten nicht das Gefühl, bewusst eine Wahl getroffen zu haben, sondern fühlten sich eher so, als habe das Schicksal für sie entschieden. Das gegenseitige Begehren war jedenfalls geweckt. Dennoch brauchten sie noch eine Zeit, um zu realisieren, dass sie bereits starke Bindungen zueinander aufgebaut hatten. »Das Herz hat Gründe, von denen der Kopf nichts weiß«, wie Blaise Pascal es einmal formulierte.
Aber so läuft die Entscheidungsfindung nun einmal ab. Auf diese Weise finden wir heraus, was wir wollen – nicht nur bei der Partnersuche, sondern auch in vielen anderen Lebensbereichen. Die Wahl eines Liebespartners ist keine außergewöhnliche, exotische Form der Entscheidungsfindung, kein romantisches Zwischenspiel im normalen Alltagsleben. Vielmehr sind die Entscheidungen bei der Partnerwahl gewissermaßen eine intensivere Version jener Entscheidungen, die wir fortlaufend in unserem Leben treffen, von der Auswahl der Speisen in einem Lokal bis hin zur Berufswahl. Eine Entscheidung zu fällen ist ein von Grund auf emotionaler Vorgang.
Die Rolle der Liebe
Umwälzungen in unserem Selbstverständnis beginnen auf die seltsamste Art und Weise. Eine der bahnbrechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, die uns halfen, das Wechselspiel zwischen Emotion und Entscheidungsfindung zu verstehen, begann mit einem Mann namens Elliot, dessen Fallgeschichte zu einer der berühmtesten in der Welt der Hirnforschung wurde. Aufgrund eines Tumors wurden die Stirnlappen in seinem Gehirn geschädigt. Zuvor war Elliot ein intelligenter, gebildeter und diplomatischer Mann gewesen. Er hatte eine reizvoll verschrobene Weltsicht gehabt. Doch dann, nach der Operation, fiel es ihm plötzlich schwer, seinen Alltag zu bewältigen. Jedes Mal, wenn er eine Aufgabe erledigen sollte, blendete er die wichtigsten Aspekte davon aus und ließ sich durch Nichtigkeiten ablenken. Nahm er sich bei der Arbeit vor, Berichte abzulegen, setzte er sich stattdessen hin und las sie einfach durch. Er konnte einen ganzen Tag mit dem Versuch zubringen, sich für ein Ablagesystem zu entscheiden. Stundenlang grübelte er über die Frage, wo er zu Mittag essen sollte, und konnte sich trotzdem für kein Restaurant entscheiden. Er traf unsinnige Anlageentscheidungen, die ihn um seine gesamten Ersparnisse brachten. Er ließ sich von seiner Frau scheiden, heiratete eine andere, die von seiner Familie abgelehnt wurde, und ließ sich bald darauf wieder scheiden. Kurz gesagt war er unfähig, vernünftige Entscheidungen zu treffen.
Schließlich wandte Elliot sich an den Wissenschaftler Antonio Damasio, der ihn einer Reihe von Tests unterzog. Sie zeigten, dass Elliot überdurchschnittlich intelligent war. Er besaß ein hervorragendes Gedächtnis für Zahlen und geometrische Muster und war gut darin, auf der Basis unvollständiger Informationen Schätzungen vorzunehmen. In den vielstündigen Gesprächen, die Damasio mit Elliot führte, fiel ihm allerdings auf, dass der Mann nie irgendeine Gefühlsregung zeigte. Er konnte von seinem tragischen Schicksal erzählen, ohne im Geringsten traurig zu wirken.
Damasio zeigte Elliot blutige, schockierende Bilder von Erdbeben, Bränden, Unfällen und Überflutungen. Elliot wusste zwar, dass er auf diese Bilder emotional reagieren sollte, aber
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