Das soziale Tier
der Verstand Entscheidungen treffen. Der Mensch kann pragmatisch handeln, weil er tief im Innern voller Gefühle ist.
Außerdem ist der menschliche Geist oder das Selbst kein einheitliches Gebilde. Der Geist ist das Resultat einer atemberaubend komplexen Serie von parallel laufenden Prozessen. Es gibt keinen Kapitän, der im Cockpit sitzt und die Entscheidungen trifft. Es gibt kein kartesianisches Theater, keinen Ort, wo all die verschiedenen Prozesse und Möglichkeiten zusammenlaufen, um in eine Rangfolge gebracht zu werden, und wo Handlungen geplant werden. Das Gehirn gleicht eher einem Ökosystem, einem unglaublich komplexen assoziativen Netzwerk aus neuronalen Verschaltungen und Entladungsmustern, aus Reaktionen und Empfindungen, die in verschiedenen Arealen des Gehirns verortet sind. Sie alle kommunizieren miteinander, beeinflussen sich und wetteifern gegenseitig um eine wenigstens teilweise Kontrolle des Organismus, wie der Nobelpreisträger Gerald Edelman schreibt. 33
Schließlich sind wir hauptsächlich Wanderer, keine Entscheider. Während der letzten hundert Jahre setzte sich die Auffassung durch, dass Entscheidungen etwas seien, das in einem einzigen, genau bestimmbaren Moment geschehen würde. Man häuft Fakten und Daten an und trifft dann seine Wahl. In Wirklichkeit aber gleichen wir eher Pilgern in einer sozialen Landschaft. Wir wandern durch eine Umwelt aus Menschen und Möglichkeiten, und während wir unterwegs sind, fällt das Gehirn eine beinahe unendliche Anzahl an Werturteilen, die sich anhäufen. In Form von Zielen, Bestrebungen, Träumen, Wünschen und Handlungsoptionen kristallisieren sich diese dann heraus. Der Schlüssel zu einem glücklichen Leben besteht darin, die Emotionen so zu erziehen, dass sie die richtigen Signale aussenden, und empfänglich für ihre subtilen Appelle zu sein.
Rob und Julia waren nicht die bestausgebildeten Menschen auf der Welt und auch nicht die tiefsinnigsten. Aber sie wussten, wie man liebt. Als sie sich im Restaurant gegenübersaßen und sich immer stärker aufeinander konzentrierten, sandten ihre Emotionen einen schnellen Strom von Leitsignalen aus und erzeugten ganze Folgen kleiner Entscheidungen, und auf diese Weise richteten sie ihr Leben allmählich neu aus. »Die Informationsverarbeitung ist grundsätzlich ein emotionaler Prozess«, schreibt Kenneth Dodge, »insofern Emotionen die Energie bereitstellen, die kognitive Aktivitäten antreiben, strukturieren, verstärken und abschwächen und ihrerseits das Erleben und der Ausdruck dieser Aktivitäten sind.« 34
Rob und Julia schätzten sich gegenseitig. Sie fühlten sich mitgerissen von einem starken, wunderbaren Strom, der sie an einen Ort trug, wo sie schon immer hatten sein wollen. Dies hatte nichts von jener überkritischen Analyse, die Julias innerer Besserwisser betrieben hatte, als sie Rob zum ersten Mal begegnet war. Dies war eine allumfassende, kraftvolle Beurteilung, die völlig anderen Regeln gehorchte. Julia verliebte sich und erfand im Nachhinein Gründe, die ihr Gefühl der Zuneigung rechtfertigten. Von diesem Tag an setzten sie und Rob ihren Lebensweg gemeinsam fort – einen Weg, der sie beide reich belohnen sollte.
Kapitel 2 Zusammenwachsen
In den ersten Monaten nach ihrer Hochzeit waren Rob und Julia vollkommen glücklich. Sie waren aber auch, wie alle frisch Verheirateten, damit beschäftigt, ihre kognitiven Karten miteinander zu verschmelzen. Jeder von ihnen hatte eine bestimmte, ihm selbst nicht bewusste kognitive Karte über das Alltagsleben mit in die Ehe gebracht. Jetzt, wo sie sich entschieden hatten, von nun an gemeinsam durchs Leben zu gehen, entdeckten sie, dass diese Karten nicht hundertprozentig zusammenpassten. Nicht die großen Unterschiede fielen ihnen auf, sondern die kleinen Gewohnheiten des Alltags, an die sie vorher nicht einmal gedacht hatten.
Julia war der Meinung, dass schmutziges Geschirr gleich in die Geschirrspülmaschine gehöre. Rob hingegen fand, dass das Geschirr, das sich im Lauf eines Tages ansammelte, in die Spüle gestellt und am Abend in einem Aufwasch gespült werden solle. Julia war es gewohnt, die Klopapierrolle mit dem Papierlauf nach vorn in die Halterung einzusetzen. In Robs Elternhaus war sie immer umgekehrt eingesetzt worden, sodass das Papier sich nach hinten abrollte.
Für Rob war die Zeitungslektüre am Morgen eine stille Tätigkeit, der zwei Menschen, die zufälligerweise am selben Tisch saßen, jeder für sich allein nachgingen. Für
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