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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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politischen Fragen.
    Merkwürdige Streitfragen tauchten unvermittelt auf und wurden zum Gegenstand wütender Beschimpfungen zwischen den beiden Lagern. Grace und sein Gegner verbrachten eine Woche damit, sich gegenseitig erbittert zu beschuldigen, Fettleibigkeit bei Kindern Vorschub zu leisten, obwohl es keineswegs erwiesen war, dass einer von ihnen dies tatsächlich getan hatte oder etwas dagegen unternehmen könnte. Eine kleinere Krise im Libanon wurde zu einem regelrechten Showdown des Wahlkampfs, wobei jede Seite Härte und Entschlossenheit zeigte und die andere des Verrats bezichtigte. Es kam zu Mini-Skandalen. Menschen in Grace’ Lager waren aufrichtig empört über ein in die Öffentlichkeit gelangtes Memo der anderen Seite, in dem die hübsche Formulierung auftauchte: »Wie wir sie ficken können.« Memos ihres eigenen Wahlkampfteams, die genau die gleiche Formulierung enthielten, ließen sie dagegen vollkommen kalt.
    Der ganze Prozess wirkte albern und oberflächlich. Aber Harold kam nicht über die Menschenmassen hinweg. Bei jeder Veranstaltung kochten die Emotionen hoch – Tausende, manchmal Zehntausende von Menschen, die wie in Ekstase ihre Unterstützung für Grace hinausbrüllten.
    In Anbetracht dessen, was er bislang über das Leben gelernt hatte, gelangte Harold zu dem Schluss, dass alle scheinbaren Banalitäten des Wahlkampfs in Wahrheit als Auslöser fungierten. Sie dienten dazu, lange Assoziationsketten in den Köpfen der Menschen anzustoßen. Grace verbrachte eine Stunde damit, sich in einer Flaggenfabrik fotografieren zu lassen. Oberflächlich betrachtet war das Ereignis trivial, doch irgendwie löste der Anblick, wie er all diese amerikanischen Flaggen hielt, eine Reihe unbewusster Assoziationen aus. 10 An einem anderen Tag stellten sie ihn auf einen Hocker, und er hielt eine Wahlkampfrede im Monument Valley, wo alle Western mit John Wayne gedreht worden waren. Es war ein billiger Trick, aber es löste eine weitere Reihe von Assoziationen aus.
    Die Wahlkampfmanager hatten keine Ahnung, was sie taten. Sie lebten in einem Sturm sinnloser Daten. Sie erprobten unterschiedlichste Tricks, um herauszufinden, was bei den Wählern ankam. Sie probierten einen neuen Satz in der Wahlrede aus und beobachteten dann, ob Menschen bei den Wahlkampfveranstaltungen unwillkürlich nickten, wenn Grace den Satz äußerte. Wenn sie nickten, blieb der Satz drin – wenn nicht, flog er wieder raus.
    Die Wähler besaßen einen verborgenen G-Punkt, und die Berater glichen plumpen Liebhabern, die versuchten, ihn zu stimulieren. Die beiden Lager stritten sich über irgendein Detail in einem Steuerkonzept, aber der Streit drehte sich im Grunde nicht um die Steuergesetze; es ging um elementare Wertvorstellungen, die indirekt angesprochen wurden. Die Kandidaten stritten sich über materielle Dinge, die leicht zu verstehen und zu besprechen waren, aber der eigentliche Gegenstand ihrer Debatte war von spiritueller und emotionaler Natur: Wer sind wir, und wie sollten wir sein?
    Eines Tages versuchte Harold auf einem Flug Grace und Erica seine Theorie des Wahlkampfs zu erklären – dass jeder Standpunkt, beispielsweise in der Energiepolitik, in Wirklichkeit dazu diene, um Wertvorstellungen über die Natur, die Gesellschaft und die menschliche Entwicklung zu verdeutlichen. Solche Standpunkte waren schlicht die Auslöser, um bestimmte Wertvorstellungen abzurufen und zu verstärken. Grace war erschöpft und konnte dem, was Harold sagte, nicht richtig folgen. Zwischen den Wahlkampfveranstaltungen schaltete er ab und versetzte sein Gehirn in eine Art Ruhezustand. Erica saß in der Nähe und tippte auf ihrem BlackBerry herum. Es gab einen Moment des Schweigens, nach welchem Grace mit erschöpfter Miene sagte: »Dieser Kram wäre wirklich interessant, wenn wir nicht mittendrin wären.«
    Doch Harold hielt weiterhin die Augen auf. Er war, wie wir wissen, ein aufmerksamer Beobachter. Jenseits des normalen Schlagabtauschs der gegnerischen Teams erkannte er eine Fülle impliziter Debatten, Kontroversen über Dinge, die nur implizit angesprochen wurden. Diese Kontroversen reichten tief in die Seele der Nation hinein und entzweiten die Wähler auf grundsätzliche Weise.
    Eine implizite Debatte drehte sich um politische Führungsstärke. Grace’ Gegner rühmte sich, Entscheidungen schnell, aus dem Bauch heraus zu treffen und dann weiterzumachen. Er behauptete (unehrlicherweise), die Meinung von Experten und die Berichterstattung in den

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