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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Anhänger der politische Mitte mit gemäßigten Ansichten. Aber politische Werte werden nicht rein theoretisch artikuliert. Sie werden im Rahmen eines Wahlkampfs zum Ausdruck gebracht, und die Kampagne der jeweiligen Partei gibt vor, wie die politischen Ansichten ausgedrückt werden.
    Die Wahlkampagne hatte das Ziel, eine an sich gemäßigte Bevölkerung zu polarisieren. Die Parteien wurden in Teams organisiert. Die Experten wurden in Teams organisiert. Es gab zwei riesige Ideenräume, einen demokratischen Ideenraum und einen republikanischen Ideenraum. Der Wettstreit ging darum, welches mentale Modell das Land in den nächsten vier Jahren beherrschen sollte. Es war eine Entweder-Oder-Entscheidung, und Wähler, die sich keinem der beiden maßgeblichen Ideenräume verbunden fühlten, mussten sich einfach die Augen zuhalten und auf gut Glück auf eine Partei tippen. Der Wahlkampf selbst machte aus einer gemäßigten Nation eine gespaltene.
    Harold beobachtete Woche für Woche, wie Grace immer mehr vom Ideenraum seiner Partei geschluckt wurde. Tief in seinem Innern hegte er unkonventionelle, seltsam schräge Anschauungen, aber in der Hektik des Endspurts wurde er von den Menschenmassen, vom Parteiapparat und den Wahlkampfspendern völlig vereinnahmt. In den letzten Wochen des Wahlkampfs hätte man meinen können, dass er gar keine eigenständige Person sei, sondern nur die lebende und atmende Verkörperung der Parteipositionen, die sich im Laufe der Jahrzehnte herausgebildet hatten und über das individuelle Denken hinausgingen.
    Das Einzige, was Grace die ganze Zeit hindurch auszeichnete, war sein Gleichmut. Er verlor nie die Beherrschung. Er fuhr seine Berater nie an. Er geriet nie in Panik. Er war immer der gelassenste Mensch im Raum, und er zog andere Menschen durch seine unerschütterliche Ruhe an. Daran änderte sich nie etwas. Harold beobachtete ihn in den kritischsten Situationen und dachte: »Die wahre Würde zeigt sich im Verhalten.«
    Selbst am Wahltag war Grace gelassen. Er strahlte Gefasstheit und Verlässlichkeit aus. Er flößte Vertrauen ein. Zusammen mit Wirtschaftsnachrichten, die seinem Wahlkampf nützten, und einigen anderen historischen Ereignissen gab das den Ausschlag. Am Wahlabend sah Harold Grace lächeln, doch er sah ihn keineswegs außer sich vor Freude. Schließlich hatte er gewusst, dass er gewinnen würde. Er hatte es seit der vierten Klasse gewusst und nie an seinem Schicksal gezweifelt.
    Wer Harold an diesem Abend wirklich erschreckte, war Erica. In den letzten Wochen hatte der Wahlkampf sie derart viel Kraft gekostet, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch stand. Als er spätabends von der Wahlparty in ihr Hotelzimmer zurückkehrte, fand er sie schluchzend in einem Sessel. Er ging zu ihr, setzte sich auf eine Armlehne und legte seine Hand in ihren Nacken.
    In Momenten wie diesen dachte Erica über ihren Lebensweg nach. Sie dachte daran, wie sich ihr einer Großvater über die mexikanische Grenze geschlichen hatte, während ihr anderer Großvater mit dem Schiff aus China gekommen war. Sie dachte an die Wohnungen, in denen sie mit ihrer Mutter gelebt hatte, wo die Türen nicht schlossen, weil sie so oft gestrichen worden waren, dass sie nicht mehr richtig in den Rahmen passten. Sie dachte an die Hoffnungen und Träume, die ihre Mutter hatte, daran, dass sie sich manchmal wie eine Versagerin vorgekommen war. Und dann dachte sie mit einigem Stolz, aber mehr noch mit Verwunderung, ans Weiße Haus, wo sie bald arbeiten würde, an die erstaunliche Intensität des Wahlkampfs und an ihre Zuneigung zu den Menschen, die ihren Chef in das Amtszimmer gebracht hatten, in dem einst Lincoln saß. Hinter ihr lagen Hunderte von Jahren an Geschichte, viele Generationen von Vorfahren und Arbeitern und Eltern, und keiner von ihnen hatte das Glück gehabt, die Privilegien zu genießen, die ihr jetzt in den Schoß gefallen waren.

Kapitel 20 Die sanfte Seite
    Es gibt in Washington D.C. eine Straßenkreuzung, wo sich an jeder Ecke eine Denkfabrik befindet. Es gibt eine Denkfabrik für Außenpolitik, eine Denkfabrik für Innenpolitik, eine Denkfabrik für Außenwirtschaftspolitik und eine, die sich auf Fragen der staatlichen Regulierung der Wirtschaft spezialisiert hat. Viele Menschen halten diesen Ort für den langweiligsten Platz auf der gesamten Erdoberfläche.
    Die Forschungsassistenten treffen sich in Cafés und beratschlagen, wie sie den Fernsehsender C-SPAN dazu bewegen könnten, über die Konferenz ihres

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