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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Chefs mit dem Titel » NATO , was nun?« im nächsten Frühjahr zu berichten. Die Junior Fellows teilen sich Taxis zum Capitol Hill und erklären sich hochherzig bereit, gegenseitig an ihren Podiumsgesprächen teilzunehmen. Die Senior Fellows, die ehemaligen Staatssekretäre dieses oder jenes Ministeriums, beteiligen sich an einer Washingtoner Institution namens »Powerless Lunch«, bei der zwei ehemals einflussreiche Personen miteinander dinieren und hochtrabende Gespräche ohne jede Bedeutung führen. Unterdessen müssen sie alle mit den emotionalen Folgen ihrer sublimierten Liquiditätswut klarkommen, worunter man die Wut der zur oberen Mittelschicht zählenden Amerikaner versteht, die ganz ordentlich verdienen, aber 60 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Privatschulgebühren ausgeben müssen. Für sie selbst bleibt da nichts mehr übrig, was tiefes, aber uneingestandenes Selbstmitleid bei ihnen hervorruft.
    Als sich Erica als stellvertretende Stabschefin in die Regierung verabschiedete, schloss sich Harold diesen glücklichen Symposiumsteilnehmern an, indem er eine Stelle als Robert J. Kolman Senior Research Fellow für Studien zur öffentlichen Politik antrat. Kolman war ein 1,30 Meter großer Investmentbanker mit seiner fünften 1,80 Meter großen Frau (das macht, aneinandergesetzt, neun Meter Frau), der glaubte, die meisten Probleme Amerikas ließen sich lösen, wenn er öfter ins Weiße Haus eingeladen würde.
    Harold fand sich im Land der politischen Einfaltspinsel wieder. Sie erschienen ihm insgesamt emotional vermeidend – Leute, die sich als Uni-Streber fachlich qualifiziert hatten, ihre Autorität auf analytischer Strenge aufbauten und sich dann an einem Ort versammelten, wo die Sexualität rigoros unterdrückt wurde, Lebensfreude nicht von Belang war und wo man, wenn man an vier Konferenzen über die Reform von sozialversicherungsrechtlichen Leistungsansprüchen teilgenommen hatte, feststellte, dass die eigene Jungfräulichkeit auf magische Weise wiederhergestellt worden war. Harold fiel auf, dass seine neuen Kollegen sehr nett und unglaublich gescheit waren, aber dass sie unter Statusrivalitäten litten, wie sie in der oberen Mittelschicht weit verbreitet waren. Als Volljuristen hatten sie eine ausgesprochene Abneigung gegen Betriebswirte. Als Washingtoner hassten sie New Yorker. Als Politikexperten ärgerten sie sich über Leute mit wohlgefälligem Knochenbau. Sie alle hatten die Spielareale ihrer Kinder im Untergeschoss mit Fitnessgeräten von NordicTrack zugestellt, aber ganz gleich, wie sehr sie sich daran auch abrackerten, achteten sie doch sorgfältig darauf, nicht attraktiv zu werden, da man sie sonst im Haushaltsbüro des Kongresses niemals ernst nehmen würde.
    Harolds Büro lag direkt neben dem eines Typen, dessen politische Karriere aufgrund eines Ungleichgewichts zwischen Rang und Beziehungen in die Brüche gegangen war. Die erste Hälfte seines Lebens hatte dieser Mensch damit zugebracht, sich selbst allein über seine berufliche Stellung zu definieren. Er hatte die sozialen Kompetenzen entwickelt, die man braucht, um die rutschige Leiter des Erfolgs zu erklimmen: die Fähigkeit, falsche Vertraulichkeit vorzutäuschen; die Begabung, sich an Vornamen zu erinnern; die subtile Fertigkeit wirkungsvoller Unterwürfigkeit. Er wurde in den Senat gewählt und beherrschte schließlich den Jargon der Globalisierung. Stundenlang konnte er hochgestochen über die Revolution in der Weltpolitik schwadronieren, die durch den technologischen Wandel, Umweltzerstörung und den grundlegenden Bedeutungsverlust moralischer Werte ausgelöst wurde. Er hatte es nicht nur zu Ruhm und Ehre, sondern auch zum Vorsitzenden des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen gebracht und wurde sogar schon als ein zukünftiger Präsidentschaftskandidat gehandelt.
    Doch dann wurde dieser arme Mann Opfer eines grausamen kosmischen Schabernacks. Im besten Mannesalter ging ihm auf, dass ihm seine glanzvolle Position als Senator nicht genügte und dass er einsam war. Manchen Senatoren gelingt es, Freundschaften aufzubauen, wenn sie im Kongress sind. Katherine Faust und John Skvoretz fanden durch eine Studie heraus, dass Freundschaftsnetzwerke innerhalb des US -Senats strukturell eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den Netzwerken des »sozialen Leckens« bei Rindern besitzen. Dieser arme Kerl aber hatte solche Freundschaften nie geschlossen. Er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, vertikale Beziehungen zu

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