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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Zeitungen bedeuteten ihm nichts. Er porträtierte sich selbst als einen ehrlichen, gläubigen Mann der Tat, der ritterliche Tugenden wie Loyalität Freunden gegenüber, Härte gegen Feinde und Entschlossenheit hochschätze.
    Grace dagegen verkörperte eher die Züge einer reflektierten Führungspersönlichkeit. Er wirkte wie jemand, der sehr belesen war, Probleme gründlich diskutierte und Nuancen und Schattierungen erkannte. Er wirkte bedächtig, rational, nachdenklich und ruhig. Manchmal gab er Interviews, in denen er den Eindruck vermittelte, als lese er mehr, als er es tatsächlich tat. Es gab also zwei Definitionen von politischer Führungsstärke, die in der Hitze des Wahlkampfs miteinander wetteiferten.
    Eine andere implizite Debatte bezog sich auf die moralische Grundhaltung der Menschen im Land. Wer für und wer gegen Grace stimmen würde, ließ sich am leichtesten mit Hilfe der Frage nach dem Besuch des Gottesdienstes prognostizieren. Menschen, die ein Mal pro Woche oder öfter in die Kirche gingen, würden sehr wahrscheinlich gegen ihn stimmen, wohingegen Menschen, die nie in den Gottesdienst gingen, ihn sehr wahrscheinlich wählen würden. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass Grace selbst ein gläubiger Mensch war, der regelmäßig zur Kirche ging.
    Der Wettstreit zwischen den beiden Männern und den beiden Parteien hatte jeden auf eine Seite von einer nicht ganz klaren moralischen Trennlinie gestellt. Die Menschen auf der einen Seite vertraten eher die Auffassung, dass Gott eine aktive Rolle in den menschlichen Angelegenheiten spiele. Die Menschen auf der anderen Seite glaubten das eher nicht. Die auf der einen Seite sprachen eher von der Unterwerfung unter den Willen Gottes und von göttlich inspirierten moralischen Geboten. Die auf der anderen Seite sprachen über so etwas eher nicht.
    Eine weitere implizite Debatte betraf die Geografie, den Lebensstil und gesellschaftliche Gruppierungen. Menschen, die in dicht bevölkerten Regionen des Landes lebten, unterstützten eher Grace. Menschen, die in dünn besiedelten Gebieten wohnten, unterstützten seinen Gegner. Die beiden Gruppen schienen unterschiedliche Vorstellungen über persönliche Entfaltung, individuelle Freiheit und Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft zu haben.
    Jeden Tag warteten Grace’ Meinungsforscher mit neuen Methoden zur Segmentierung der Wähler auf. Menschen mit einer Vorliebe für motorisierte Sportarten – Motorradfahren, Rennbootfahren, Schneemobilfahren – waren eher gegen Grace, während ihn Menschen, die nicht-motorisierten Freizeitaktivitäten – Wandern, Radfahren und Surfen – nachgingen, eher unterstützten. Menschen mit aufgeräumten Schreibtischen waren gegen Grace, Menschen mit unordentlichen Schreibtischen waren für ihn.
    Interessanterweise hing alles mit allem zusammen. Lebensstil-Präferenzen korrelierten mit politischen Präferenzen, die wiederum mit weltanschaulichen Positionen korrelierten, die mit religiösen und moralischen Entscheidungen zusammenhingen und so weiter und so fort. Die Wahlkämpfe sprachen die neuronalen Schaltkreise niemals direkt an, doch sie sandten kleine Auslösereize aus, die die mentalen Netzwerke aktivierten.
    Eines Tages ging Grace’ Gegner auf die Jagd. Auch Handlungen wie diese aktivierten Netzwerke im Gehirn von Wählern. Jagen bedeutete Gewehre, was wiederum persönliche Freiheit bedeutete, was traditionelle Gemeinschaften bedeutete, was konservative soziale Wertvorstellungen bedeutete, was Hochschätzung der Familie und Ehrfurcht vor Gott bedeutete. Am nächsten Tag teilte Grace in einer Suppenküche Suppe aus. Die Suppenküche bedeutete ein gutes Werk, was Mitleid bedeutete, was ein Streben nach sozialer Gerechtigkeit bedeutete, was Verständnis für die Verlierer im großen Lebensspiel bedeutete, was eine aktive Regierung bedeutete, die mehr für die Förderung der Gleichheit ausgeben würde. Die Kandidaten brauchten lediglich den ersten Schritt in diesen Assoziationsketten zu gehen. Die Wähler erledigten den Rest. Botschaft verstanden.
    Harold beobachtete den Wahlkampf einige Tage lang und fragte sich, welche Bedeutung er tatsächlich habe. Ungeachtet aller Trivialität und Show unterstrich er, wenn auch nur unterschwellig, die grundlegenden Alternativen im Leben. Die Politik, so folgerte Harold an manchen Tagen, ist ein nobles Unterfangen. An anderen Tagen hätte er sich am liebsten übergeben.
    Teamgeist
    Eine Sache verwirrte Harold: Die meisten Wähler waren

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