Das soziale Tier
abzuschaffen.« 33
Diese Hamilton’sche Tradition dominierte die amerikanische Politik viele Jahrzehnte lang. Doch im 20. Jahrhundert verblasste sie. Die große Debatte des 20. Jahrhunderts drehte sich um die (sinnvolle) Größe der Staatsverwaltung. Die Hamilton’sche Tradition stand quer zu dieser Debatte.
Harold aber gelangte zu der Überzeugung, dass es an der Zeit sei, diese traditionelle Konzeption eines Staates mit eingeschränkten, aber gestaltungskräftigen Befugnissen wiederzubeleben – allerdings mit zwei Aktualisierungen. Die Hamiltonianer der Vergangenheit lebten vor dem Anbruch des kognitiven Zeitalters, als die mentalen Anforderungen an strebsame junge Menschen vergleichsweise gering waren. Diese Situation hatte sich gewandelt, und daher musste eine Bewegung, die die soziale Mobilität fördern wollte, der in sozialer und informationstechnischer Hinsicht komplexer gewordenen Lebenswelt angemessene Beachtung schenken. Außerdem hatten Hamilton, Lincoln und Roosevelt noch ein bestimmtes Niveau an sozialem und moralischem Kapital voraussetzen können. Für sie war es selbstverständlich gewesen, dass Bürger in eng vernetzten Gemeinschaften lebten, die durch wohlverstandene Normen, einen moralischen Konsens und restriktive Bräuche definiert waren. Heute konnten Politiker so etwas nicht mehr voraussetzen. Das moralische und soziale Kapital, das damals vorhanden war, hatte sich weitgehend aufgelöst und musste neu aufgebaut werden.
Harold verbrachte seine Jahre in Washington damit, sich für einen Hamilton’schen Ansatz einzusetzen, aus dem sich Humankapitalstrategien der zweiten Generation ableiten ließen. Er hat niemals das entwickelt, was man eine Ideologie nennen könnte, ein alles erklärendes System guter Regierungsführung. Dafür war die Welt ein zu komplexer Organismus, so sehr angefüllt mit einem unsichtbaren Wirrwarr von Funktionen, dass selbst eine sehr optimistische Regierung dieses nicht nach irgendeinem vorgefertigten Plan restrukturieren konnte.
Und er hatte auch keine Vision einer heldenhaften politischen Führung im Kopf. Harold hatte recht bescheidene Vorstellungen darüber, was der Staat tun kann und sollte. Der britische Philosoph Michael Oakeshott formulierte eine nützliche Warnung vor Selbstüberschätzung, als er schrieb: »In der Politik befahren die Menschen daher eine unbegrenzte, unergründliche See; es gibt keinen Hafen, in dem man Zuflucht suchen könnte, noch einen Boden zum Ankern, weder einen Ort, an dem die Reise beginnt, noch ein festgesetztes Ziel. Das Unternehmen besteht darin, seetüchtig zu bleiben und nicht unterzugehen; die See ist sowohl Freund wie Feind; und das seemännische Geschick besteht darin, die Ressourcen einer traditionellen Verhaltensweise zu nutzen, um jede feindselige Situation in eine freundschaftliche zu verwandeln.« 34
Als Harold über Fragen der Politik und des Regierungshandelns nachdachte, versuchte er sich daran zu erinnern, wie wenig wir wissen und wissen können, wie sehr unser Verlangen nach Macht und unser Wunsch, Gutes zu tun, uns blind machen für unsere eigenen Beschränkungen.
Aber wie die meisten Amerikaner glaubte er an den Fortschritt. Während er eine instinktive Abneigung gegen Veränderungen hatte, die den grundlegenden Charakter einer Gesellschaft betreffen, hatte er eine Sympathie für Reformen, die sie nachbessern.
Er verbrachte diese Jahre damit, seine Aufsätze zu schreiben und die Welt mit seinen politischen Vorschlägen zu bombardieren. Nicht viele Menschen schienen seine Meinung zu teilen. Es gab einen Kolumnisten der New York Times, der erstaunlich ähnliche Ansichten vertrat, und noch ein paar weitere Gleichgesinnte. Trotzdem arbeitete er in der Überzeugung, dass er überwiegend richtig lag und dass eines Tages andere zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangen würden wie er. Karl Marx sagte einmal, Milton habe Das verlorene Paradies so geschrieben, wie eine Seidenraupe Seide spinne – zur Entfaltung seiner eigenen Natur. 35 Harold fühlte sich während seiner Jahre bei der Denkfabrik erfüllt. Er war nicht immer glücklich, wenn Erica wochenlang von der Bildfläche verschwand, aber er hatte das Gefühl, dass er einen Beitrag zur politischen Welt leistete. Er war zuversichtlich, dass sein »sozialistischer« Ansatz in der einen oder anderen Form einmal großen Einfluss haben würde.
Kapitel 21 Die andere Bildung
Jeden Winter treffen sich die Großen und Mächtigen im schweizerischen Davos zum
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