Das soziale Tier
sich gebracht, die sie bislang nicht gekannt hatte.
Sie hatte die Bücher und Theaterstücke gelesen, die das Alter als erbarmungslosen Verfallsprozess beschreiben. In Wie es euch gefällt nennt Shakespeares griesgrämiger Charakter namens Jaques das Alter »zweite Kindheit und reines Vergessen«. In der Mitte des 20. Jahrhunderts sahen Entwicklungspsychologen, wenn sie sich überhaupt mit dem Alter befassten, dieses als eine Phase des Rückzugs an. Die Alten, so glaubte man, lösten sich langsam von der Welt, um sich auf den Tod vorzubereiten. Sie könnten nicht mehr damit rechnen, grundlegende Veränderungen zu erreichen.
Erica aber fühlte sich ganz und gar nicht so, und tatsächlich haben neuere Forschungen gezeigt, dass ältere Menschen durchaus noch in der Lage sind, zu lernen und sich persönlich weiterzuentwickeln. Das Gehirn kann während des gesamten Lebens neue neuronale Verbindungen knüpfen und sogar neue Neuronen wachsen lassen. Nur einige mentale Prozesse, wie etwa die Leistung des Arbeitsgedächtnisses, die Fähigkeit, ablenkende Reize auszublenden, und die Fähigkeit, schnell mathematische Probleme zu lösen, verschlechtern sich. Obwohl viele Neuronen absterben und viele Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnregionen verkümmern, reorganisieren sich die Gehirne älterer Menschen und gleichen so die Auswirkungen des Alters teilweise aus. 3 Ältere Gehirne brauchen vielleicht länger, um die gleichen Ergebnisse zu erzielen, aber auch sie sind normalerweise in der Lage, die Probleme zu lösen. Eine Studie über Fluglotsen kam zu dem Ergebnis, dass 30-jährige Fluglotsen zwar ein besseres Gedächtnis haben als ihre älteren Kollegen, dass 60-Jährige in Notsituationen jedoch genauso gut reagierten. 4
Eine Reihe von Längsschnittstudien, die vor Jahrzehnten begannen, malen ein rosigeres Bild vom Leben im Ruhestand. Diese Studien geben das Alter weder als eine Zeit der Kapitulation noch als eine Phase der Abgeklärtheit wieder. Sie porträtieren es als eine Phase der Entwicklung – und sie sprechen nicht einmal von jenen superfitten Alten, die den herannahenden Tod als eine Aufforderung verstehen, sich mit Fallschirmen aus Flugzeugen zu stürzen.
Die meisten Menschen berichten mit zunehmendem Alter über wachsende Zufriedenheit. Dies könnte damit zusammenhängen, dass wir im Alter negativen emotionalen Reizen weniger Beachtung schenken. Laura Carstensen von der Stanford University hat herausgefunden, dass ältere Menschen besser in der Lage sind, ihr emotionales Gleichgewicht zu bewahren, und dass sie negative Ereignisse schneller hinter sich lassen. 5 John Gabrieli vom MIT hat festgestellt, dass in den Gehirnen älterer Menschen die Amygdala aktiv bleibt, wenn Menschen positive Bilder betrachten, aber nicht aktiv ist, wenn sie negative Bilder betrachten. 6 Sie haben unbewusst die Macht der positiven Wahrnehmung gelernt.
Die Geschlechterrollen beginnen sich aufzulösen, wenn Menschen altern. Viele Frauen werden durchsetzungsfähiger, während viele Männer emotional einfühlsamer werden. Die Persönlichkeit tritt oftmals stärker hervor. Norma Haan von der University of California in Berkeley unterzog Menschen, die in ihrer Jugend psychologisch untersucht worden waren, 50 Jahre später einem Anschlusstest und fand dabei heraus, dass die Personen mit dem Alter kontaktfreudiger, selbstbewusster und herzlicher geworden waren. 7
Nichts deutet darauf hin, dass Menschen mit dem Alter automatisch weiser werden. Die heute verfügbaren Tests, mit denen man »Weisheit« (eine Kombination aus sozialer, emotionaler und informationeller Intelligenz) zu erfassen versucht, deuten auf eine Art Stabilisierung hin: Das Leistungsniveau, das Menschen mittleren Alters zeigen, halten sie bis ungefähr zum 75. Lebensjahr. 8
Aber Weisheit ist eine Eigenschaft, die sich schriftlichen Tests entzieht, und Erica merkte, dass sie im Pseudo-Ruhestand Fähigkeiten besaß, die sie im mittleren Alter nicht besessen hatte. Sie spürte, dass sie jetzt besser in der Lage war, Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Sie spürte, dass es ihr leichter fiel, eine Situation zu beobachten, ohne vorschnell Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Sie hatte das Gefühl, besser zwischen vorläufigen Ansichten und festen Überzeugungen unterscheiden zu können. Das heißt, sie konnte sich ein stimmigeres, genaueres Bild vom Ozean ihres Geistes machen.
Eine Sache gab es, die sie nicht mehr so oft erlebte: das Gefühl starker
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