Das soziale Tier
geprahlt: »Größer, schneller und stärker als Ihre.« Daraufhin erzählte ein vormaliger nationaler Sicherheitsberater, wie Putin einmal einen Ring klaute. Der Sicherheitsberater hatte bei einem Treffen seinen Graduierungsring von der Militärakademie getragen. Putin fragte, ob er ihn mal genauer betrachten dürfe, woraufhin er ihn sich selbst ansteckte und ihn anschließend geschickt in seiner Hosentasche verschwinden ließ, während sie sich unterhielten. Das Außenministerium habe einigen Krawall gemacht, um den Ring zurückzubekommen, aber Putin habe die Rückgabe verweigert. Ein anderer Premierminister erzählte, wie er sich einmal heimlich von einer Cocktailparty im Buckingham Palace stahl, um in den Privatgemächern herumzuschnüffeln, und wie die Queen ihn zusammenstauchte, als er erwischt wurde. Solche Anekdoten waren köstlich, aber sie hinterließen auch den Eindruck, dass die Weltpolitik von Drittklässlern gemacht wurde.
Dennoch genoss Erica dieses Treiben. Sie war überzeugt davon, dass die Kommissionen trotz ihrer Geistlosigkeit einen Nutzen hatten. Und die fortwährenden Einblicke in das innere Räderwerk der Weltpolitik amüsierten sie ebenfalls. Oftmals lehnte sie sich mitten in irgendeiner langen Sitzung zurück und fragte sich, wie diese Männer und Frauen an die Spitze der internationalen Elite gelangt waren. Sie zeichneten sich ja nicht durch außergewöhnliche Genialität aus. Sie besaßen kein besonders umfassendes Fachwissen oder kreative Ansichten. Wenn es eine Eigenschaft gab, die die Besten von ihnen besaßen, so war es die Fähigkeit zur Vereinfachung. Sie konnten die wesentlichen Elemente eines komplexen Sachverhalts in einfachen Worten zusammenfassen. Eine Sekunde, nachdem sie den Kern eines Problems dargelegt hatten, wirkte ihre Feststellung vollkommen offensichtlich, aber aus irgendeinem Grund hatte bis dahin niemand das Problem so einfach auf den Punkt gebracht. Sie verstanden es, eine komplexe Wirklichkeit für vielbeschäftigte Menschen überschaubar zu machen.
Erica selbst hatte ein hohes Statusniveau erreicht. Sie hatte es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Wo immer sie hinkam, wurde sie wie eine bedeutende Persönlichkeit behandelt. Fremde traten an sie heran und sagten, es sei ihnen eine Ehre, sie kennenzulernen. Das allein machte sie nicht glücklich, aber es führte dazu, dass sie nicht mehr von dem starken Ehrgeiz gequält wurde, der sie einen Großteil ihres Lebens vor sich hergetrieben hatte. Anerkennung und Reichtum, so hatte sie gelernt, machen nicht glücklich, aber sie befreien einen von den Sorgen, die Menschen belasten, die nach beidem streben.
Was ihre äußere Erscheinung anlangte, sah sich Erica noch immer als ein dynamisches junges Mädchen. Wenn sie ihr Gesicht unerwartet im Spiegel sah, war sie kurz geschockt darüber, dass es nicht das Gesicht einer 22-jährigen Frau war. Es war das Gesicht einer älteren Dame.
Inzwischen fiel es ihr schwer, Frauen mit hoher Stimme zu verstehen, und es fiel ihr schwer, auf lauten Partys überhaupt irgendjemanden zu verstehen. Manchmal konnte sie nicht von niedrigen Sesseln aufstehen, ohne sich mit ihren Armen hochzudrücken. Ihre Zähne waren grauer als früher, und ihr Zahnfleisch hatte sich zurückgebildet, sodass ihre Zahnhälse teilweise freilagen. Sie hatte auf weichere Nahrungsmittel umgestellt (die Kiefermuskeln verlieren im Verlauf eines normalen Lebens 40 Prozent ihrer Masse). 1
Außerdem hatte sie begonnen, sich am Geländer festzuhalten, wenn sie eine Treppe hinunterstieg. Sie hörte von älteren Freundinnen, die gestürzt waren und sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatten (40 Prozent davon enden in einem Pflegeheim, und 20 Prozent können nie mehr gehen). 2 Sie nahm nun auch jeden Tag eine ganze Palette von Tabletten ein und hatte sich notgedrungen eine Tablettendose mit mehreren Fächern zugelegt.
Kulturell fühlte sich Erica nicht mehr richtig zugehörig. Es gab mittlerweile einige Generationen junger Filmsternchen, die sie nicht auseinanderhalten konnte. Popmusiktrends waren gekommen und gegangen, ohne dass sie diese wirklich zur Kenntnis genommen hätte.
Andererseits hatte Erica das Gefühl, dass sie mit zunehmendem Alter zu einer realistischeren Einschätzung von sich selbst gelangt war. Es war so, als habe sie mittlerweile ein solches Ausmaß an materieller Sicherheit erreicht, dass sie ihre Unzulänglichkeiten jetzt realistisch beurteilen konnte. So hatte der Erfolg eine Demut mit
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