Das soziale Tier
Zeit behauptet, das sexuelle Verlangen von Männern und Frauen wäre gleich stark, aber das trifft, statistisch gesehen, nicht zu. 2 Das männliche Verlangen ist ziemlich stabil und lässt nur während der Menstruation der Partnerin nach, die der Mann intuitiv spürt. Bei Studien in Striptease-Clubs kam heraus, dass Tänzerinnen während ihrer Regelblutung 45 Prozent weniger Trinkgeld bekommen. Warum das Verlangen zurückgeht, wissen wir nicht. 3
An diesem Tag im Park begehrte Rob Julia mit jeder Faser seines Körpers. Das war nicht bloß ein Darwin’scher Reflex. In Rob existierten alle möglichen inneren Schranken, die es ihm schwer machten, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Die Gefühle waren zwar da, aber sie versteckten sich irgendwo in seinem Innern, wo er sie nicht leicht zu fassen bekam. Selbst in den Momenten, in denen er spürte, was er fühlte, konnte er es nicht in Worte fassen. Beim Sex aber lösten sich seine inneren Kommunikationsschranken auf. Die leidenschaftliche Erregung ließ sein kritisches Bewusstsein wie im Nebel zurücktreten. Er nahm seine Umgebung nicht mehr wahr und es war ihm egal, wie er selbst wahrgenommen wurde. Dann brachen seine Gefühle für Julia mit voller Kraft hervor. Er spürte sie ganz unmittelbar und ließ ihnen, ohne sich dessen überhaupt gewahr zu werden, freien Lauf. Die schnellen Nummern, auf die sich Julia ihm zuliebe manchmal einließ, leisteten das allerdings nicht. Wenn sie sich jedoch beide einander leidenschaftlich hingaben, erlebte Rob die Seligkeit einer unbeschwerten, freien Kommunikation, die das eigentliche Objekt seiner Begierde war. Es ist was dran an dem alten Witz, dass Frauen das Gefühl haben müssen, geliebt zu werden, ehe sie sich sexuell öffnen können, während Männer Sex haben müssen, um sich geliebt zu fühlen.
Um Julias Begehren stand es sogar noch komplizierter. Es glich einem Fluss mit vielen Nebenarmen. Wie bei fast allen Frauen wurde Julias Interesse an Sex davon beeinflusst, wie viel Testosteron ihr Körper zu einem bestimmten Zeitpunkt produzierte und wie sie Serotonin verarbeitete. Die Hektik ihres Alltags, ihre allgemeine Stimmung und die Gespräche, die sie in der Mittagspause mit Freundinnen geführt hatte, wirkten sich ebenso auf ihre Bereitschaft aus wie Bilder und Empfindungen, derer sie sich nicht einmal bewusst war – der Anblick eines Kunstwerks, eine Melodie, eine Blumenrabatte. Julia betrachtete gern männliche und weibliche Körper. Wie die meisten Frauen wurde sie schon feucht, wenn sie Naturfilme über kopulierende Tiere sah, auch wenn sie den Gedanken, durch den Anblick von Tieren sexuell erregt zu werden, auf bewusster Ebene abstoßend fand. 4
Julias sexuelle Vorlieben waren stärker kulturell geprägt als die von Rob. 5 Männer haben unabhängig von ihrem Bildungsstand die gleichen sexuellen Präferenzen, während sich die der Frauen je nach Bildung, Kultur und sozialem Status voneinander unterscheiden. Hochqualifizierte Frauen sind viel eher zu Oralsex, zu homosexuellen Aktivitäten und zu vielfältigen anderen Praktiken bereit als geringqualifizierte. Religiöse Frauen sind weniger experimentierfreudig als nichtreligiöse Frauen, wohingegen sich die sexuellen Wünsche religiöser Männer nicht stark von denen anderer unterscheiden.
Es heißt, das Vorspiel sei für eine Frau alles, was in den letzten 24 Stunden vor dem Geschlechtsverkehr passiere. An jenem Abend sahen sie sich zusammen einen Film an, tranken eine Flasche Wein, und dann dauerte es nicht lange, bis sie sich erst verspielt, dann leidenschaftlich liebten und auf den üblichen Höhepunkt zusteuerten.
Ein Orgasmus ist kein Reflex. 6 Er ist eine Empfindung, ein mentales Ereignis. Er beginnt mit einer Kaskade immer intensiverer körperlicher und mentaler Rückkopplungsschleifen. Berührungs- und andere Sinnesreize lösen die Freisetzung von chemischen Substanzen wie Dopamin und Oxytocin aus, die ihrerseits weiteren sensorischen Input erzeugen, der in einem komplexen neuronalen Feuerwerk im Gehirn gipfelt. 7 Einige Frauen können allein dadurch zum Orgasmus kommen, dass sie die entsprechenden Gedanken denken. Manche Frauen mit Rückenmarksverletzungen können durch Stimulation ihrer Ohren einen Orgasmus haben. Andere können durch Stimulation der Genitalien, die infolge einer unfallbedingten Lähmung angeblich taub sind, einen sexuellen Höhepunkt erreichen. Eine Frau in Taiwan konnte schlicht dadurch, dass sie sich die Zähne putzte, epileptische
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