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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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durchdringend ins Gesicht. Nach ein paar Monaten entwickelte er ein feines Gespür für das richtige Timing – wann er seinen Blick auf Julia richten sollte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wann er den Blick abwenden und wann er ihren Blick erwidern sollte. Er starrte sie an, woraufhin sie ihn unwillkürlich zurück anschauen musste. In einem erstaunlich frühen Alter konnte er das Gesicht seiner Mutter unter anderen Gesichtern erkennen (was sich daran zeigte, dass er ihr Gesicht länger anstarrte). 10 Er konnte zwischen einem glücklichen und einem traurigen Gesicht unterscheiden. 11 Harold besaß ein hochempfindliches Gespür für die Mimik fremder Gesichter, indem er winzige Unterschiede in den Muskelbewegungen um die Augen und den Mund registrierte. So erkennen sechs Monate alte Babys die unterschiedlichen Gesichtszüge verschiedener Kleinaffen, während diese für Erwachsene alle gleich aussehen. 12
    Und dann war da der Tastsinn. Harold spürte das starke Verlangen, seine Mutter so oft und so intensiv wie möglich zu berühren. Harry Harlows berühmten Experimenten mit Kleinaffen zufolge verzichten Säuglinge für Hautkontakt oder auch ein Handtuch, das sich weich anfühlt, auf Nahrung. Das tun sie, weil körperlicher Kontakt für ihr Überleben und für die Entwicklung ihres Nervensystems genauso wichtig ist wie Nahrung. Aber auch Julia bereitete diese Art von Kontakt ein bislang ungekanntes Wohlgefühl. Die menschliche Haut besitzt zwei Typen von Rezeptoren. Ein Typ leitet Informationen weiter an den somatosensorischen Cortex, der für die Erkennung und Handhabung von Gegenständen zuständig ist, der andere Typ aktiviert die Hirnareale, die das Sozialverhalten steuern. Es ist eine Form taktiler körperlicher Kommunikation, die hormonelle und andere chemische Kaskaden in Gang setzt, die den Blutdruck senken und ein sehr tiefes Wohlbehagen erzeugen. 13 Während Harold an Julias Brust lag und an ihrer Brustwarze saugte, stärkte er das enge emotionale Band zwischen ihnen, das wiederum das Wachstum der Zellen in seinem Gehirn anregte. Julia spürte ein so ausgeprägtes Gefühl der Erfüllung, wie sie es noch nie erlebt hatte. Einmal ertappte sie sich sogar bei dem Gedanken: »Wozu brauch ich eigentlich noch Sex? Das hier ist doch viel befriedigender.« Das dachte ausgerechnet die Frau, die auf dem College als aussichtsreichste Kandidatin für eine Hauptrolle im nächsten Girls Gone Wild -Video gegolten hatte.
    Am stärksten aber wirkte vielleicht der Geruch. Von Harolds Kopf stiegt ein feiner Duft auf, der tief in Julias Gehirn eindrang und ein solches Gefühl der Verbundenheit erzeugte, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.
    Und schließlich war da noch der Rhythmus. Harold begann Julia zu imitieren. Nur ein paar Monate alt, öffnete er seinen Mund, wenn Julia ihren aufmachte, schüttelte seinen Kopf, wenn sie ihren schüttelte, und bald schon konnte er Handbewegungen nachahmen. 14
    Indem Harold Julia in die Augen sah, ihre Haut berührte und ihre Gesten imitierte, begann er eine Protokonversation, die sich aus einem unbewussten Strom von Emotionen, Stimmungen und Reaktionen zusammensetzte. Julia machte unwillkürlich bei diesem Spiel mit, sah Harold in die Augen, brachte ihn dazu, den Mund zu öffnen und den Kopf zu schütteln.
    Es ist noch nicht lange her, dass die Studenten eines Psychologie-Kurses die menschliche Fähigkeit zu dieser Art von Protokonversation ausnutzten, um ihrem Professor einen Streich zu spielen. Sie verabredeten im Vorfeld, dass sie ihn aufmerksam ansehen würden, wenn er seine Vorlesung in der linken Hälfte des Hörsaals hielte, während sie ihren Blick abwenden oder sich zerstreut geben wollten, wenn er auf die rechte Seite schlenderte. Im Verlauf der Vorlesung stand der Professor unbewusst immer öfter auf der linken Seite des Raumes. Am Schluss war er fast aus der Tür raus. Er hatte den Trick der Studenten nicht durchschaut, sondern sich auf dieser Seite des Raumes einfach wohler gefühlt. Die unsichtbare soziale Schwerkraft wirkte sich unbemerkt auf sein Verhalten aus.
    Die Protokonversation zwischen Julia und Harold war selbstverständlich viel tiefgreifender. Harold hielt seine Operation Mutterschaft mit unermüdlicher Beharrlichkeit über Wochen und Monate aufrecht, wobei er sich immer stärker in Julias Denken und Fühlen hineinschlich und allmählich sogar ihre Identität veränderte.
    Die Invasion
    Julias alte Persönlichkeit wehrte sich. Das muss man ihr

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