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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Rhythmen und Muster, die er kennen musste, wenn er später sprachliche Äußerungen verstehen und selbst kommunizieren wollte. Französische Babys schreien anders als Babys, die im Mutterleib Deutsch gehört haben, weil sie den leicht singenden Tonfall der Stimmen ihrer Mütter übernommen haben. 7 Anthony J. DeCasper u.a. von der University of North Carolina in Greensboro baten Mütter, ihren Föten über einen Zeitraum von einigen Wochen regelmäßig die Geschichte Der Kater mit Hut vorzulesen. 8 Die Kinder erinnerten sich an das Klangmuster der Geschichte. Nach ihrer Geburt saugten sie ruhiger und rhythmischer an einem Schnuller, wenn sie diese hörten, als wenn sie eine andere Geschichte mit einer anderen Rhythmisierung vorgelesen bekamen.
    Harold brachte neun Monate im Mutterleib damit zu, sich zu entwickeln und zu wachsen. Und dann, eines schönen Tages, kam er zur Welt. Was seine kognitive Entwicklung anbelangt, war dies kein besonders wichtiges Ereignis, auch wenn er jetzt erheblich besser sehen konnte.
    Nun konnte er damit beginnen, seine Mutter richtig zu bearbeiten, Julia, das Party-Girl, zu eliminieren und stattdessen Julia, die Supermutter, zu erschaffen. Zuerst musste er eine Reihe von Bindungen zwischen ihnen aufbauen, die alle anderen verdrängen würden. Gerade mal ein paar Minuten alt, in eine Decke gehüllt an der Brust seiner Mutter liegend, war Harold schon eine kleine Bindungsmaschine und verfügte über eine Palette von Fähigkeiten, die ihm halfen, seine primären Bezugspersonen total an sich zu fesseln.
    Im Jahr 1981 leitete Andrew Meltzoff eine neue Ära in der Entwicklungspsychologie ein, als er einem 42 Minuten alten Baby seine Zunge herausstreckte. 9 Das Neugeborene streckte ihm nun seinerseits die Zunge heraus. Es schien, als erfasse dieses winzige Wesen, das zum ersten Mal in seinem Leben eine Zunge sah, intuitiv, dass die seltsame Kombination von Formen vor ihm ein Gesicht war, dass das kleine Ding in der Mitte eine Zunge war, dass sich hinter dem Gesicht ein Lebewesen verbarg, dass diese Zunge nicht Teil seines eigenen Körpers war und dass es selbst einen entsprechenden kleinen Muskelkeil besaß, den es frei bewegen konnte.
    Das Experiment wurde mit Säuglingen unterschiedlichen Alters wiederholt. Seither haben Wissenschaftler nach weiteren frühkindlichen Fähigkeiten gesucht. Und sie sind fündig geworden. Früher einmal glaubte man, Neugeborene seien unbeschriebene Blätter, doch je genauer die Forscher hinsehen, umso mehr sind sie beeindruckt, wie viel diese Kinder schon wissen und wie viel sie in den ersten Lebensmonaten lernen.
    Tatsache ist, dass wir noch vor der Geburt eine große Menge an Wissen erben, eine Fülle von Verhaltensmustern, die aus vielen Epochen und vielen Quellen herrühren. Die Informationen, die tief aus unserer evolutionären Vergangenheit stammen, nennen wir Genetik. Die Informationen, die uns vor Jahrtausenden geoffenbart wurden, nennen wir Religion. Die Informationen, die über Jahrhunderte hin tradiert wurden, nennen wir Kultur. Die Informationen, die über Jahrzehnte hinweg weitergeleitet wurden, nennen wir Familie, und die Informationen, die wir vor Jahren, Monaten, Tagen oder auch Stunden aufgenommen haben, bezeichnen wir als Bildung und Ratschläge.
    Aber das alles sind Informationen, und diese Informationen fließen von den Toten durch uns hindurch und weiter zu den Ungeborenen. Das Gehirn ist auf diesen Wissensfluss und seine vielen Strömungen und Nebenflüsse eingestellt, es lebt in diesem Fluss, wie eine Forelle in einem Bach lebt. Unser Denken ist sehr stark geprägt von diesem langen historischen Strom, und niemand von uns existiert losgelöst davon. Selbst ein Neugeborenes ist schon im Besitz dieses reichen Erbes, und es ist darauf ausgelegt, sich immer mehr davon anzueignen und seinerseits etwas in den Strom einzuspeisen.
    Obgleich Klein-Harold sich nach wie vor nicht als eigenständige Person erlebte, besaß er ein ganzes Repertoire an Eigenschaften und Fähigkeiten, um Julia dazu zu bringen, sich in ihn zu verlieben. Das Erste war sein Aussehen. Harold besaß alle körperlichen Merkmale, derer es bedurfte, um die Liebe seiner Mutter zu wecken: große Augen, eine hohe Stirn, einen kleinen Mund und ein schmales Kinn. Diese Merkmale lösen bei allen Menschen starke Reaktionen aus, ganz egal, ob sie sich bei Säuglingen, Mickey Mouse oder E.T. finden.
    Harold konnte noch etwas: Er konnte starren. Oft lag er neben Julia und blickte ihr

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