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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Art der Alzheimer-Demenz, die nur millionenschwere Ex-Alpharüden befällt: Sie vergessen alles außer ihren Erektionen.
    Das beschauliche Leben
    Nachdem sie sich zur Ruhe gesetzt hatten, kauften Erica und Harold sich ein zweites Haus in Aspen, wo sie im Sommer und für ein paar Wochen um Weihnachten herum lebten. Sie sahen die »Unsterblichen« an sich vorbeirauschen und beim munteren Zechen, wenn sie in die Innenstadt gingen, doch ihr eigenes Leben hatte eine andere Richtung genommen. Auch sie hatten das erreicht, was man Erfolg nennt, aber ihr Erfolg war ein anderer. Ohne wirklich darüber nachzudenken, hatten sie eine Gegenkultur geschaffen. Sie lehnten den Lebensstil der wohlhabenden, eher konventionellen Mehrheit nicht gezielt ab; sie ignorierten ihn eher. Sie lebten und dachten anders, und ihr Leben hatte eine andere und tiefere Form angenommen. Sie hatten einen besseren Zugang zu den Quellen, aus denen sich das menschliche Herz speist, und wenn man ihnen begegnete, war man beeindruckt von ihrer Substanz und Tiefe.
    An Sommernachmittagen saßen sie in Adirondack-Sesseln auf der vorderen Veranda, sahen auf den Roaring Fork River hinaus und winkten den Floßfahrern zu, die gelegentlich vorbeikamen. Harold las seine ernsthaften Sachbücher, derweil Erica Romane las und Nickerchen hielt. Harold sah zu ihr hinüber, während sie schlief. Die chinesischen Gesichtszüge waren mit dem Alter deutlicher hervorgetreten, und sie war dünner und schmächtiger geworden. Harold erinnerte sich an eine Geschichte von Mark Saltzman, die er einmal gelesen hatte. Sie handelte von einem Mann in China, der Englisch lernte. Eines Tages fragte ihn sein Lehrer, was der glücklichste Moment in seinem Leben gewesen sei. Der Chinese zögerte lange. Dann lächelte er verlegen und sagte, seine Frau sei einmal nach Beijing gefahren und habe dort Ente gegessen, und sie erzähle ihm oft von der köstlichen Ente. Und so endete die Geschichte mit dem Satz: »Er müsse sagen, dass der glücklichste Moment in seinem Leben ihre Reise gewesen sei und das Essen der Ente.« 1
    Harold dachte an sein eigenes Leben zurück und versuchte, es in die Form dieser Geschichte zu zwängen. Ihm fiel das blaue Hemd ein, das Erica auf der Highschool als Auszeichnung für ihren Prädikatsabschluss erhalten hatte, auf den sie so stolz gewesen war. Wenn sie Praktikanten in ihrer Firma begrüßte oder eingeladen wurde, bei der Einstellungsfeier in Firmen oder der Abschlussfeier in Colleges eine Rede zu halten, war sie immer wieder auf das blaue Hemd zu sprechen gekommen. Harold hatte sie die Anekdote von dem Hemd im Lauf der Jahre Hunderte von Malen erzählen hören. Das erste Mal war beim Abendessen gewesen, als sie jung war und am Anfang ihres Berufslebens stand; dann in mittleren Jahren, als sie selbstbewusst war, interviewt und gefeiert wurde; und jetzt, wo sie älter und schmächtiger und runzlig war. Er dachte, es wäre nicht völlig verfehlt, wenn er sagen würde, der glücklichste Moment seines Lebens sei es gewesen, als sie es auf die Liste der besten College-Absolventen schaffte, bevor sie ihn kannte, und dafür als Belohnung ein Hemd bekommen hatte.
    An diesen Nachmittagen sprachen sie über alles Mögliche, manchmal bei einem Glas Wein – oder zweien oder dreien für Harold. Am späteren Nachmittag stand Erica auf und holte Harold einen Pullover. Dann ging sie ins Haus, um ihnen ein frühes Abendessen zuzubereiten. Harold blieb auf der Veranda sitzen und beobachtete die in der Abendsonne länger werdenden Schatten.
    Sie hatten ihr Reiseunternehmen acht Jahre lang betrieben, aber schließlich mussten sie es aufgeben. Erst spielten Harolds Knie nicht mehr mit, dann seine Hüften und seine Sprunggelenke, die von jeher anfällig für Sehnenscheidenentzündung gewesen waren. Seine Beweglichkeit war mittlerweile stark eingeschränkt, er konnte nur noch unbeholfen und langsam an zwei Stöcken gehen. Er würde nie mehr Tennis oder Golf spielen, nie mehr einfach so aufstehen und lässig quer durchs Zimmer gehen können.
    Sein Körper baute ab. In den letzten Jahren war er wegen dieses oder jenes Gebrechens fast einmal pro Jahr im Krankenhaus gewesen. Manche Männer werden im Alter dünn und schwächlich, aber er wurde schwer und rund, da er sich kaum noch bewegte. Je älter er wurde, desto mehr Hilfe brauchte er für die kleinsten Verrichtungen, über die er sein ganzes Leben nicht nachgedacht hatte; manchmal sogar, um nur aus dem Bett oder einem Sessel

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