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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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sehr früh in seinem Leben schien er ganz genaue Vorstellungen davon zu haben, welche Verhaltensmuster mit diesen verschiedenen sozialen Rollen verbunden sind. In einem Spiel spielte er einen Krieger, in einem anderen einen Doktor und in einem dritten einen Chef – wobei er sich ausmalte, wie die Menschen in diesen Rollen denken, und Theorien aufstellte, was in den Köpfen anderer Menschen vor sich geht.
    Viele von Harolds Geschichten drehten sich um seine Zukunft und darum, wie er zu Ehre und Ruhm kommen könne. Während Rob, Julia und ihre erwachsenen Freunde manchmal von Reichtum und Luxus träumten, träumten Harold und seine Spielkameraden von ruhmreichen Taten.
    Eines Samstagnachmittags kamen ein paar seiner Freunde zu Harold nach Hause, um mit ihm zu spielen. Sie waren mit seinen Spielsachen in seinem Zimmer. Harold verkündete, sie seien jetzt Feuerwehrmänner, und schon bald stellten sie sich vor, ein Haus würde brennen, und sammelten Werkzeuge, um den Brand zu bekämpfen – einen Schlauch, einen LKW , einen Haufen Äxte. Jedes Kind schrieb sich selbst eine Rolle in der Rahmenerzählung zu. Rob schlich sich heimlich heran und stand, aufmerksam beobachtend, an der Tür. Zu seinem Kummer musste er feststellen, dass Harold ein kleiner Napoleon war, der seinen Gästen sagte, wer den LKW zu fahren und wer den Schlauch zu tragen habe. Sie verhandelten lang und breit darüber, was in dieser Als-ob-Welt, in diesem gemeinsamen mentalen Raum, den sie geschaffen hatten, erlaubt war und was nicht. Selbst in der freien Welt ihrer Fantasien war es offenbar noch notwendig, Regeln zu haben, und sie verbrachten so viel Zeit damit, über die Regeln zu sprechen, dass Rob den Eindruck gewann, sie seien wichtiger als die Geschichte selbst.
    Rob fiel auf, dass jeder Junge bestrebt war, sich durchzusetzen. Die Spiele zeichneten sich durch einen bestimmten Handlungsbogen aus, der von einem Ruhezustand über eine Krise in einen erneuten Zustand der Ruhe führte. Zunächst spielten sie etwas Heiteres. Dann ereignete sich etwas Schreckliches, das sie alle aufbrachte, und sie bekämpften es gemeinsam. Nach ihrem Sieg kehrten sie dann wieder in den früheren Zustand emotionaler Ausgeglichenheit zurück. Jede Geschichte endete in einem Triumph, einer Art »Jetzt ist alles besser«-Moment, der allen Beteiligten Ruhm und Ehre eintrug.
    Nachdem Rob etwa 20 Minuten lang Benjamin Spock (berühmter amerikanischer Kinderarzt und Psychoanalytiker) gespielt und die Kinder beobachtet hatte, spürte er plötzlich den Drang mitzumachen. Er setzte sich zu den Jungen, schnappte sich einige Figuren und schloss sich Harolds Team an.
    Das war ein großer Fehler. Ungefähr so, wie wenn sich ein gewöhnlicher Sterblicher einen Basketball nehmen und spontan zu einem Spiel mit den Los Angeles Lakers gesellen würde.
    Im Lauf seines Erwachsenenlebens hatte Rob sein Gehirn auf eine bestimmte Art des Denkens trainiert. Der Psychologe Jerome Bruner nennt es das »paradigmatische Denken«, es wird durch Logik und Analyse strukturiert. Die Sprache dieser Denkweise ist die eines juristischen Schriftsatzes, einer geschäftlichen Mitteilung oder einer akademischen Abhandlung. Diese Denkweise besteht darin, eine Situation nüchtern zu analysieren, Fakten zu ordnen, allgemeine Prinzipien abzuleiten und Fragen zu stellen.
    Das Spiel, das Harold und seine Freunde spielten, basierte dagegen auf einem anderen Denkstil, den Bruner den »narrativen Modus« nennt. 22 Harold und seine Freunde waren jetzt zu einer Reihe von Cowboys auf einer Ranch geworden. Sie übten sich in bestimmten Aktivitäten wie Reiten, Lassowerfen, Bauen und Spielen. In dem Maße, wie sich ihre Geschichten weiterentwickelten und verzweigten, zeigte sich, was im Rahmen der Handlung sinnvoll war und was nicht.
    Die Cowboys begannen zusammenzuarbeiten und sich zu zanken. Rinder gingen verloren. Zäune wurden errichtet. Sie schlossen sich zu Teams zusammen, wenn Tornados im Anmarsch waren, und trennten sich wieder, sobald die Gefahr vorüber war.
    Und dann kamen die Invasoren. Der narrative Denkmodus ist ein mythischer Modus. Er beinhaltet eine zusätzliche Dimension, die dem paradigmatischen Denkmodus für gewöhnlich fehlt: die Dimension von Gut und Böse, von Heilig und Profan. Der mythische Modus hilft Menschen, eine Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern den Emotionen und moralischen Empfindungen, die die Geschichte hervorruft, auch einen Sinn zu geben.
    Die Jungen reagierten mit Sorge und

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