Das soziale Tier

Furcht auf die Invasoren. Sie rangelten auf dem Teppich und stellten ihre Plastikpferde in einer Reihe gegen die Eindringlinge auf, riefen einander dabei aber zu: »Es sind zu viele!« Alles schien verloren. Da zauberte Harold ein riesiges weißes Pferd hervor, zehnmal größer als die anderen Spielsachen, mit denen sie hantierten. »Wer ist das?«, schrie er und beantwortete seine Frage selbst: »Es ist der Schimmel!« Und er stürmte auf die Invasoren zu. Zwei der anderen Jungen wechselten die Seiten und begannen, Invasoren auf den Schimmel zu schleudern. Eine apokalyptische Schlacht tobte. Das Pferd zerschmetterte die Eindringlinge. Die Eindringlinge zerfleischten den Schimmel. Schon bald lagen die Invasoren tot am Boden, doch auch der Schimmel starb. Sie hüllten seine Leiche in ein Tuch und beerdigten ihn voller Trauer, und die Seele des Pferdes fuhr in den Himmel auf.
    Rob glich einem Warzenschwein in einem Rudel Gazellen. Sie hatten eine federleichte, beschwingte Fantasie, während seine schwerfällig und träge war. Sie sahen Gut und Böse, während er Plastik und Metall sah. Nach fünf Minuten erzeugte ihre emotionale Intensität einen dumpfen Schmerz in seinem Hinterkopf. Das Bemühen, mit ihnen mitzuhalten, erschöpfte ihn.
    Wahrscheinlich hatte Rob selbst einmal die Fähigkeit zu dieser Gehirnakrobatik besessen. Aber dann, als er zu reflektieren begann, führte ihn seine kognitive Entwicklung davon weg. Er konnte seine Aufmerksamkeit jetzt besser fokussieren, aber er konnte nicht mehr die alten ungewöhnlichen Gedankensprünge machen. Als er später Julia erzählte, dass er nicht so unsystematisch und assoziativ denken könne wie Harold, sagte sie nur: »Vielleicht wird er dem entwachsen.«
    Rob versuchte ihr zuzustimmen. Unterdessen nahmen zumindest Harolds Geschichten immer ein glückliches Ende. Dan P. McAdams behauptet, Kinder entwickelten eine erzählerische Grundhaltung, die ihre Geschichten lebenslang präge. 23 Demnach bilden sie nach und nach eine dauerhafte Annahme aus, wonach alles einen guten oder schlechten Ausgang nehmen wird (je nach den Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit gemacht haben). Kinder legen einen Grundstock von Geschichten an, in denen Ziele verwirklicht und Verletzungen geheilt sind, der Friede wiederhergestellt wird und die Welt verständlich und durchschaubar ist.
    Als es Zeit war, ins Bett zu gehen, plauderte Harold in seinem Zimmer noch mit seinen Figuren. Seine Eltern waren im unteren Stockwerk, müde und unfähig, genau zu verstehen, was er sagte. Was sie aber hören konnten, war, wie seine Stimme mit den Geschichten, die in der Luft über ihm tanzten, bald lauter, bald leiser wurde. Sie hörten, wie er etwas in Ruhe erklärte, wie er erschreckt reagierte und wie er seine imaginären Freunde hinter sich scharte. Er war im »Rain-Man-Modus«, wie Rob und Julia diesen Zustand nannten, versunken in seiner eigenen Traumwelt. Sie fragten sich, wann genau Harold beginnen würde, ein richtiger Mensch zu werden, so er es denn jemals würde. Im Obergeschoss dagegen sank Harold, noch während er seinen Affen etwas erklärte, langsam in den Schlaf.

Kapitel 5 Bindung
    Einmal, Harold ging gerade in die zweite Klasse, rief Julia ihn aus dem Spielzimmer an den Küchentisch. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und sagte ihm, dass es nun Zeit für seine Hausaufgaben sei. Harold stimmte seine übliche Vermeidungsarie an. Zuerst erklärte er, er habe keine Hausaufgaben aufbekommen. Als diese kleine Lüge zerbrach, erzählte er, er habe sie bereits in der Schule gemacht. Daraufhin folgte eine Reihe immer unglaubwürdigerer Behauptungen. Er habe sie im Bus erledigt. Er habe das Aufgabenblatt in der Schule vergessen. Die Hausaufgaben seien zu schwierig, und der Lehrer habe den Schülern gesagt, sie bräuchten sie nicht zu machen. Die Hausaufgaben überforderten ihn, weil der Lehrer den Stoff nicht durchgenommen habe. Er müsse sie erst in einer Woche abgeben, und er werde sie morgen machen und so weiter und so fort.
    Nachdem er seinen abendlichen Redeschwall beendet hatte, forderte Julia ihn auf, seinen Rucksack aus der Diele zu holen. Er tat dies mit der Energie eines verurteilten Mörders auf dem Weg in die Hinrichtungszelle.
    Harolds Rucksack war wie eine Enzyklopädie der Interessen eines kleinen Jungen. Er ließ vermuten, dass Harold auf dem besten Wege war, eine vielversprechende Karriere als Obdachloser zu beginnen. Wenn man sich im Innern durch die zahlreichen geologischen Schichten