Das soziale Tier
ihm die Lebewesen zu beschreiben, die auf dem Festland existieren. Der Frosch kommt der Bitte nach, aber der Fisch begreift nicht richtig, was der Frosch sagt. Menschen stellt sich der Fisch als Fische vor, die auf ihren Schwanzflossen gehen. Vögel stellt sich der Fisch als Fische mit Flügeln vor. Kühe sind Fische mit Eutern. Der Wissenserwerb bei den Schülern von Ms. Taylor erfolgte nach dem gleichen Muster. Sie hatten mentale Modelle, die von ihren Erfahrungen geprägt waren und die sie dazu veranlassten, alle Informationen, die man ihnen gab, nach dem Raster dieser Modelle zu konstruieren.
Glauben Sie nicht, dass die Methode, mit der ein Teenager heute denkt, morgen noch die gleiche ist. Einige Forscher waren früher der Ansicht, dass Menschen unterschiedliche Lernstile haben, dass einige beim Denken eher die rechte Hirnhälfte aktivieren und andere eher die linke; dass einige eher auf akustischem Wege lernen, während andere Informationen hauptsächlich über den Sehsinn aufnehmen. Es gibt allerdings kaum belastbare empirische Daten, die diese Klassifizierung untermauern. Vielmehr springen wir alle, je nach Kontext, zwischen den verschiedenen Methoden hin und her.
Natürlich wollte Ms. Taylor Wissen vermitteln, also die Art von Kenntnissen, wie sie auch bei Prüfungen abgefragt werden. Aber Schüler vergessen sowieso innerhalb weniger Wochen 90 Prozent des Wissens, das sie im Unterricht lernen. Jeder Lehrer sollte sich daher bemühen, mehr als nur Wissen weiterzugeben; er sollte die Art und Weise beeinflussen, wie Schüler die Welt wahrnehmen, sie für ein Fach begeistern. Lehrer, die das schaffen, bleiben in Erinnerung.
Ms. Taylor unterrichtete ihre Schüler nicht so sehr, sie bildete sie vielmehr praktisch aus. 14 Ein Großteil der unbewussten Lernprozesse vollzieht sich durch Nachahmung. An einem bestimmten Problem veranschaulichte sie eine Denkmethode, und dann hoffte sie, dass ihre Schüler diese von ihr übernehmen würden.
Sie zwang sie dazu, Fehler zu machen. Das unangenehme Gefühl, Dinge falsch zu verstehen, und die Mühe, die es kostet, Fehler zu korrigieren, erzeugen eine emotionale Erfahrung, die dazu beiträgt, Lerninhalte mental einzubrennen.
Sie bemühte sich, Schüler dazu zu bringen, ihre unbewussten Einstellungen zu hinterfragen. Wenn man einen Entschluss fasste, war dies ihrer Meinung nach nicht mit dem Bau einer Mauer zu vergleichen; es war mehr ein Prozess des Entdeckens einer Idee, die bereits im Unbewussten existierte. Sie wollte, dass ihre Schüler verschiedene intellektuelle Kostüme anprobierten, um so herauszufinden, was ihnen stand.
Sie verlangte von ihnen auch harte Arbeit. Denn ungeachtet ihrer Sentimentalität war sie nicht der Ansicht, dass Schüler nur ihrer natürlichen Neugierde folgen sollten. Sie gab ihnen Hausaufgaben auf, die sie nicht mochten. Sie ließ häufig Tests schreiben, da sie intuitiv ahnte, dass das Abrufen der im Gedächtnis gespeicherten Lerninhalte für einen Test die entsprechenden neuronalen Netzwerke im Gehirn stärkte. Sie setzte sie unter Druck. Sie war bereit, sich unbeliebt zu machen.
Ms. Taylor wollte ihre Schüler zu Autodidakten machen. Sie hoffte, ihnen eine Ahnung von der emotionalen und sinnlichen Freude zu vermitteln, die das Entdecken mit sich bringt – jenes starke Lustgefühl, das man verspürt, wenn man hart arbeitet, ein wenig leidet und dann plötzlich kapiert. Sie hoffte, ihre Schüler würden süchtig nach dieser Erfahrung werden. Sie würden, dank ihr, für den Rest ihrer Tage zu Autodidakten werden. So hehr dachte Ms. Taylor von ihrem Beruf.
Die Jagd
In den ersten Wochen fand Harold Ms. Taylor lächerlich, danach für immer unvergesslich. Der wichtigste Moment ihrer Beziehung kam eines Nachmittags, als Harold nach dem Sportunterricht in die Pause gehen wollte. Ms. Taylor hatte ihm auf dem Flur aufgelauert, gut getarnt in ihren Erdtönen vor den Spinden. Sie erspähte ihre Beute, die sich mit normaler Geschwindigkeit näherte. Einige Sekunden lang stellte sie ihm mit professioneller Ruhe und Geduld nach, um dann, in der Sekunde, in der die Grüppchen auf dem Flur auseinandergingen und Harold verwundbar und allein war, zuzustoßen. Sie drückte ihm ein schmales Bändchen in die Hand. »Das wird dir zeigen, was wahre menschliche Größe ist!«, sagte sie bewegt. Und dann war sie auch schon verschwunden. Harold blickte nach unten. Er hielt ein abgegriffenes Exemplar eines Buches mit dem Titel The Greek Way in der Hand, das
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