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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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bot, versuchte, sich ein eben solches herbeizuzaubern.
    Als junge Erwachsene machte sie ihre Alanis-Morissette-, Jewel- und Sarah-McLachlan-Phasen durch. Sie demonstrierte, recycelte und beteiligte sich an den Boykotten der Tugendhaften. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie bei großen Ereignissen – Highschool-Bällen, Hochzeiten, der Abschlussfahrt ans Meer – schlecht gelaunt war, was sie von den krakeelenden Horden von Grünschnäbeln absetzte. Sie schrieb peinlich sentimentale Sätze in die Jahrbücher anderer Leute und fand zu Hermann Hesse und Carlos Castaneda, auch wenn sonst niemand in ihrem Alter jemals von ihnen gehört hatte. Sie war ein Ausnahmetalent, was Überdrehtheit anging.
    Aber sie wurde erwachsen. Sie rauchte auf dem College – und hatte damit ausnahmsweise auch mal eine Beschäftigung gefunden, die sie leidenschaftslos und mit einem gewissen Zynismus betrieb. Sie arbeitete einige Jahre für die gemeinnützige Organisation Teach for America, die sich für die Beseitigung der Bildungsungerechtigkeit einsetzt. In dieser Zeit erlebte sie auch, was es heißt, wirklich aus der Bahn geworfen zu sein. Dies führte dazu, dass sie sich für ihre eigenen Krisen nicht mehr ganz so begeisterte.
    Als Harold sie kennenlernte, war sie Ende 20 und unterrichtete Englisch. Sie hörte Musik von Leslie Feist, Yael Naïm und der Indie-Rockband Arcade Fire . Sie las Dave Eggers und Jonathan Franzen. Sie war süchtig nach Hand-Desinfektionsmitteln und Cola light. Sie trug ihr Haar zu lang und zu natürlich, um zu zeigen, dass sie keinesfalls Partnerin in einer Anwaltskanzlei oder Ähnliches werden wollte. Sie mochte Schals und schrieb Briefe von Hand. Sie schmückte ihre Wände, sogar über ihrem Schreibtisch zu Hause, mit didaktischen Maximen, die meisten davon nach dem Muster des Diktums von Richard Livingstone: »Man führt moralisches Versagen gern auf Schwäche des Charakters zurück, dabei ist es häufiger einem unzulänglichen Ideal geschuldet.«
    Sie hätte sich zu einer normalen Person entwickeln können, wenn sie nicht dem Englisch-Lehrplan der Highschool unterworfen gewesen wäre. Es ist eine Sache, im Laufe einiger Jahre Ein anderer Frieden von John Knowles, Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger, Von Mäusen und Menschen von John Steinbeck, Hexenjagd von Arthur Miller, Die Farbe Lila von Alice Walker, Der scharlachrote Buchstabe von Nathaniel Hawthorne und Wer die Nachtigall stört von Harper Lee lesen zu müssen. Eine andere Sache ist es, diese Bücher Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr im Unterricht durchnehmen zu müssen. Daraus kann man nicht unbeschadet hervorgehen.
    Sie setzten sich in ihrem Kopf fest. Und schon bald wurde sie zu einer Art Kupplerin. Sie gelangte zu dem Schluss, dass ihre Rolle im Leben darin bestehe, tief in die Seelen ihrer Schüler hineinzublicken, ihre stärkste Sehnsucht zu erkennen und dann für diese Person die geeignete literarische Durchschnittskost zu finden, die auf einzigartige Weise ihr Leben verändern würde. Sie pflegte ihre Schüler auf dem Flur anzuhalten und ihnen ein Buch in die Hand zu drücken, worauf sie ihnen mit zitternder Stimme sagte: »Du bist nicht allein!«
    Vielen dieser Kinder wäre nie der Gedanke gekommen, allein zu sein. Aber Ms. Taylor ging davon aus – wobei sie ihr eigenes Leben vielleicht etwas zu sehr zum Maßstab nahm –, dass sich hinter jedem Cheerleader, hinter jedem Band-Mitglied, hinter jedem Klassenbesten ein Leben in stummer Hoffnungslosigkeit verbarg.
    Und so verteilte sie Bücher zur Errettung der Seelen. Sie sah in Büchern einen Weg, um die Isolation zu überwinden und sich den »wahrhaft Sensiblen« verbunden zu fühlen. »Dieses Buch rettete mein Leben«, pflegte sie ihren Schülern einzeln nach dem Unterricht zuzuflüstern. Sie lud sie in die Glaubensgemeinschaft derjenigen ein, die durch Highschool-Lektürelisten erlöst werden. Sie erinnerte sie daran, dass es in finstren Zeiten, wenn das Leid unerträglich erscheint, noch immer Holden Caulfield gibt, der einen auf diesem Weg begleitet.
    Und dann strahlte sie vor Stolz. Ihre Augen funkelten. Tief in ihrem Herzen war sie bewegt. Manchmal genügte es schon, sie in diesem zuckersüßen Zustand zu betrachten, um einen durchschnittlichen Erwachsenen zum Diabetiker zu machen. Doch Ms. Taylor hatte noch eine weitere unbestreitbare Qualität: Sie war eine hervorragende Lehrerin. Ihre ganze emotionale Bedürftigkeit richtete sie darauf, die Jugendlichen zu

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