Das soziale Tier
eine Frau namens Edith Hamilton geschrieben hatte. 15
Harold sollte sich sein ganzes Leben an diesem Moment erinnern. Später erfuhr er, dass The Greek Way unter Altertumsforschern einen zweifelhaften Ruf genießt, doch auf der Highschool erschloss es ihm eine neue Welt. Sie war fremdartig und zugleich vertraut. Im klassischen Griechenland entdeckte Harold eine Welt des Kampfes, des Wettstreits, des Teamgeists und des Ruhmes. Er entdeckte eine Welt, in der Mut zu den höchsten Tugenden gehörte, in der der Zorn eines Krieges eine Triebfeder der Geschichte sein konnte und in der Menschen in kräftigen Farben zu leben schienen. In Harolds sozialem Umfeld gab es nicht viel, das ihm half, in seine Männlichkeit hineinzufinden, das klassische Griechenland dagegen stellte ihm eine Sprache und einen Verhaltenskodex zur Verfügung.
Edith Hamiltons Buch gab ihm überdies ein Gefühl, das ihm bis dahin unbekannt gewesen war, nämlich mit etwas sehr Altem und Tiefgründigem verbunden zu sein. Hamilton zitierte eine Textstelle von Aischylos: »Gott, dessen Gesetz es ist, dass derjenige, der sich Wissen erwirbt, leiden muss. Und selbst in unserem Schlaf fällt Schmerz, der nicht vergessen kann, Tropfen für Tropfen auf das Herz, und gegen unseren Willen empfangen wir Weisheit durch die schreckliche Gnade Gottes.« Harold verstand diese Passage nicht richtig, aber er spürte, dass sie irgendwie besonders bedeutungsschwer war.
Hamiltons Buch machte einen so starken Eindruck auf ihn, dass er, geleitet durch das Bestreben, über die Epochen hinweg mit einem geheimnisvollen Urgrund in Verbindung zu treten, aus eigenem Antrieb noch weitere Bücher las. Schon immer war er fleißig und aufmerksam gewesen – so wie es sich für einen Schüler gehört, der ein prestigeträchtiges College besuchen will, mit dem er auf Partys angeben kann. Doch diese Bücher über Griechenland begann er auf eine andere Weise zu lesen, nämlich mit der romantischen Sehnsucht, etwas Wahres und Bedeutungsvolles zu entdecken. Er verschlang sie aus einem inneren Bedürfnis heraus. Dann machte er mit populärwissenschaftlichen Geschichtsbüchern weiter. Er sah sich Filme über das Leben im antiken Griechenland an (die meisten davon ziemlich schlecht gemacht), so etwas wie 300 und Troja . Wie es auf der Highschool Mode war, befasste er sich oberflächlich auch mit Homer, Sophokles und Herodot.
Ms. Taylor verfolgte all diese Aktivitäten mit großer Aufmerksamkeit, und eines Tages setzten sie sich in einer Freistunde zusammen, um einen Studienplan zu entwerfen.
Es begann unter nackten Leuchtstoffröhren in einem gewöhnlichen Klassenzimmer, wo sie und Harold an Schreibtischen saßen, die für ihre Beine etwas zu klein waren. Harold hatte beschlossen – genauer gesagt: er hatte sich überreden lassen –, seine Abschlussarbeit über einen noch nicht näher bestimmten Aspekt des Lebens im antiken Griechenland zu schreiben, und Ms. Taylor würde seine Betreuerin sein. Harold hörte ihr also aufmerksam zu, als sie euphorisch über das bevorstehende Projekt sprach. Ihre Begeisterung war ansteckend. Es gefiel ihm, sich unter vier Augen mit ihr zu unterhalten. Studien über den Spracherwerb haben gezeigt, dass Menschen am schnellsten lernen, wenn sie von einer anderen Person direkt unterrichtet werden. Am langsamsten lernt man von Video- oder Tonbändern. Außerdem hatte es für ihn etwas Verführerisches, wenn eine kluge, attraktive ältere Frau über ein Thema redete, das ihn sehr interessierte.
Ms. Taylor hielt Harold für einen beliebten, sportlichen Highschool-Schüler, der Anwandlungen von Idealismus zeigte, den Wunsch, Teil von etwas Höherem zu sein, das über das gewöhnliche Leben hinausgeht. Das war ihr bei den Diskussionen im Unterricht aufgefallen. Ms. Taylor hatte Harold das Buch von Hamilton ursprünglich deshalb gegeben, weil die alten Griechen heranwachsenden Männern eine beflügelnde Vision von Größe vermitteln. Bei ihrer Besprechung schlug sie Harold vor, er solle in seiner Arbeit das Leben im klassischen Griechenland mit bestimmten Aspekten des Lebens an der Highschool vergleichen. Ms. Taylor vertrat die Theorie, dass Kreativität dadurch entsteht, dass zwei verschiedene thematische Felder im Geist eines Menschen aufeinanderprallen, so wie zwei Galaxien im Weltraum miteinander verschmelzen. Sie war der festen Überzeugung, dass jeder Mensch zwei Berufe haben sollte, zwei Perspektiven auf die Welt, die sich gegenseitig ergänzen und erhellen.
Weitere Kostenlose Bücher