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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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erreichen, und bei dieser Aufgabe war für Zimperlichkeit und Zurückhaltung kein Platz. All ihre empfindsamen Qualitäten, die für andere Erwachsene schwer erträglich waren, machten sie in der Schule zu einem Superstar.
    Ihre Methode
    Ms. Taylor gehörte zu den Lehrern, die verstanden haben, dass der Schulunterricht von einem falschen Menschenbild ausgeht. Er geht nämlich von der Annahme aus, dass Schüler so etwas wie leere Kisten sind, die mit Informationen gefüllt werden müssen.
    Sie war sich der Tatsache bewusst, dass Menschen grundsätzlich seltsamer und komplexer sind, als wir gemeinhin vermuten. Sie unterrichtete Jugendliche, was bedeutete, dass ihre Schüler durch eine Phase des seelischen Aufruhrs gingen, die fast wie eine zweite frühe Kindheit war. Mit dem Beginn der Pubertät kommt es beim Menschen zu einem schonungslosen »Beschneiden« der Synapsen im Gehirn. Aufgrund dieser psychischen Wirren verbessern sich die kognitiven Fähigkeiten von Teenagern nicht linear. Einige Studien kamen zu dem Ergebnis, dass 14-Jährige die Gefühle anderer Menschen weniger gut erkennen können als Neunjährige. 8 Es dauert einige Jahre der Entwicklung und inneren Stabilisierung, bevor sie zu ihrem früheren Selbst wieder aufschließen.
    Und dann gibt es natürlich die Hormonstürme. Die Hirnanhangdrüsen ihrer Schülerinnen fangen plötzlich an, hochtourig zu laufen. 9 So wie in ihrer frühen Kindheit überschwemmt Östrogen ihre Gehirne. Diese Sintflut sorgt für einen sprunghaften Anstieg sowohl des kritischen Denkvermögens als auch der emotionalen Sensibilität. Einige Teenager reagieren auf einmal besonders empfindlich auf Helligkeit und Dunkelheit. Ihre Stimmungen und Wahrnehmungen ändern sich minütlich, in Abhängigkeit von den hormonellen Schwankungen.
    In den ersten beiden Wochen des Menstruationszyklus eines Mädchens im Teenageralter scheint der steile Anstieg des Östrogenpegels im Blut das Gehirn aufgedreht und munter zu machen. 10 In den darauffolgenden beiden Wochen wird die Aktivität des Gehirns dann durch eine Welle von Progesteron gedämpft. Sagt man einem Mädchen in diesem Alter, seine Jeans seien zu kurz geschnitten, dann überhört es diese Bemerkung an einem Tag, schreibt Louann Brizendine. »Erwischt man sie aber am falschen Tag ihres Zyklus, dann versteht sie die Bemerkung so, als würde man sie eine Schlampe nennen oder ihr sagen, sie sei zu fett, um so eine Jeans zu tragen. Selbst wenn man das gar nicht gesagt hat und auch nicht sagen wollte, interpretiert ihr Gehirn die Äußerung in diesem Sinne.« 11
    Infolge dieser hormonellen Schwankungen beginnen Jungen und Mädchen unterschiedlich auf Stress zu reagieren. Mädchen reagieren stärker auf Beziehungsstress, während Jungen, durch deren Körper die zehnfache Menge an Testosteron zirkuliert, sehr empfindlich auf Angriffe reagieren, die ihren Status infrage stellen. Beide neigen dazu, in den merkwürdigsten Momenten auszuflippen. In anderen Situationen wiederum können sie erstaunlich unbeholfen sein. Ms. Taylor fragte sich, wieso ihre Schüler es für gewöhnlich nicht über sich brachten, vor einer Kamera zu lächeln. In ihrer Verlegenheit und Hemmung setzten sie ein so gequältes Lächeln auf, als wenn sie dringend auf die Toilette müssten.
    Sie ging grundsätzlich davon aus, dass jeder Junge in ihrer Klasse insgeheim ans Masturbieren dachte, während sie versuchte, ihnen Englisch beizubringen. Und jedes Mädchen in ihrer Klasse, so glaubte sie, fühle sich insgeheim einsam und isoliert.
    Ms. Taylor blickte im Unterricht auf ein Meer von Gesichtern. Sie musste sich daran erinnern, dass diese ruhigen und gelangweilten Mienen täuschten. Hinter der Fassade herrschte das Chaos. Wenn sie einem Schüler eine bestimmte Information vermittelte, nahm dessen Gehirn diese nicht umstandslos und strukturiert auf. Wie John Medina schreibt, gleicht dieser Prozess eher »einem Mixer, der ohne Deckel läuft. Die Information wird bei der Verarbeitung im Gehirn buchstäblich in einzelne Stücke zerlegt und über das gesamte Gehirn verstreut.« 12 »Sie denken noch nicht so geordnet, wie du es dir vielleicht wünschen würdest«, ermahnte sie sich. Sie konnte allenfalls hoffen, bei der Vermittlung von Lerninhalten bereits vorhandene, alte Muster mit neuen Mustern zu verknüpfen. Als junge Lehrerin stieß sie auf ein Buch mit dem Titel Fisch ist Fisch . 13 Es handelt von einem Fisch, der sich mit einem Frosch anfreundet. Der Fisch bittet den Frosch,

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