Das soziale Tier
mit seinen Kenntnissen auch kein Examen in Oxford bestanden. Aber er hatte die unterste Stufe des Erwerbs von Fachkenntnissen überwunden. Er hatte verstanden, dass Lernen kein völlig linearer Prozess ist. Es gibt gewisse Durchbrüche – Momente, in denen man einen neuen intellektuellen Zugang zu einem Gebiet erhält und es mit anderen Augen sieht.
Das lässt sich am leichtesten anhand des Spezialwissens veranschaulich, das Schachgroßmeister besitzen. In einer Übung zeigte man einer Reihe hochbegabter Spieler und einer Gruppe von Nichtspielern eine Reihe von Schachbrettern für jeweils fünf bis zehn Sekunden. Auf jedem Brett waren 20 bis 25 Figuren angeordnet, wie bei einem wirklichen Spiel. Die Teilnehmer wurden später aufgefordert, sich an die Stellungen der Figuren auf dem Brett zu erinnern. Die Großmeister wussten noch die Stellung jeder einzelnen Figur auf jedem Brett. 21 Die durchschnittlichen Spieler konnten sich an vier bis fünf Figuren pro Brett erinnern.
Es ist nicht so, dass die Schachgroßmeister einfach viel intelligenter gewesen wären als die anderen. Der IQ lässt erstaunlicherweise keine sehr zuverlässigen Vorhersagen über die Fähigkeiten als Schachspieler zu. 22 Und Schachgroßmeister besitzen auch kein außergewöhnlich gutes Erinnerungsvermögen. Als dieselbe Übung mit Figuren wiederholt wurde, die auf dem Schachbrett aufs Geratewohl verteilt waren, in einer Weise, die mit keiner Spielsituation in Verbindung zu bringen war, konnten sich die Großmeister nicht besser an die Stellungen erinnern als alle anderen. 23
Nein, der eigentliche Grund dafür, dass die Großmeister sich so gut an die Figurenkonstellationen auf dem Schachbrett erinnern konnten, bestand darin, dass sie nach so vielen Jahren der intensiven Beschäftigung mit dem Schachspiel die Bretter einfach auf eine andere Weise sahen. Wenn durchschnittliche Spieler die Schachbretter betrachteten, sahen sie eine Gruppe einzelner Figuren. Wenn die Großmeister die Bretter betrachteten, sahen sie Konfigurationen. Statt einen Haufen Buchstaben auf einer Seite sahen sie Wörter, Absätze und Geschichten. Eine Geschichte lässt sich leichter einprägen als ein Haufen einzelner Buchstaben. Expertise entsteht durch interne Verknüpfungen von kleinen Informationseinheiten zu größeren informationellen Netzwerken. Lernen besteht nicht einfach darin, Faktenwissen anzuhäufen, vielmehr geht es darum, die Beziehungen zwischen Informationseinheiten zu verinnerlichen.
Jedes Fachgebiet hat seine eigene Struktur, sein eigenes Schema grundlegender Ideen, Ordnungsprinzipien und wiederkehrender Muster – kurzum, sein eigenes Bezugssystem. Der Experte hat sich diese Struktur angeeignet und besitzt ein implizites Wissen darüber, wie er innerhalb dieser Struktur vorgehen muss. Wirtschaftswissenschaftler denken wie Wirtschaftswissenschaftler. Juristen denken wie Juristen. Zuerst entscheidet sich der künftige Experte für eine bestimmte Disziplin, aber schon bald ergreift das Fachgebiet von ihm Besitz. Die Schädelgrenze, die mutmaßliche Schranke zwischen dem Experten und dem Objekt seiner Analyse, zerbricht.
Das führt dazu, dass der Experte nicht intensiver über eine bestimmte Materie nachdenkt, sondern weniger intensiv. Er muss nämlich die Auswirkungen einer breiten Palette von Möglichkeiten nicht berechnen. Da er über Fachwissen verfügt, kann er vorhersehen, wie die Dinge zusammenpassen.
Schritt drei
Ms. Taylors dritter Schritt bestand darin, Harold dabei zu helfen, dieses implizite Wissen über das antike Griechenland an die Oberfläche zu bringen. Nach wochenlanger Lektüre und weiteren Wochen der abermaligen Lektüre riet sie ihm, Tagebuch zu führen. Darin sollte er seine Gedanken über das Leben im alten Griechenland ebenso wie über seine eigenen Erfahrungen auf der Highschool niederschreiben. Sie sagte ihm, er solle frei assoziieren, seine Gedanken aus seinem Unbewussten aufsteigen lassen, sich nicht zensieren und sich nicht fragen, wie gut es sei, was er da schreibe.
Ihre Grundregel lautete, dass jeder Schüler einen Aufsatz zu 75 Prozent fertiggestellt haben sollte, ehe er mit der Niederschrift beginnt. Vor der Ausarbeitung sollte eine lange Phase der Reifung stehen, in der Harold sich von verschiedenen Blickwinkeln aus und in unterschiedlichen Stimmungen mit dem Stoff auseinandersetzte. Er sollte sich genug Zeit nehmen, um Wissensinhalte auf unterschiedliche Weise zu verknüpfen. Er sollte über andere Dinge nachdenken und
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