Das soziale Tier
Erziehung ihrer Kinder angeht.
Kinder aus der gebildeten Schicht, wie etwa Harold, werden in einer Atmosphäre erzogen, die Lareau »konzertierte Bildung« nennt. Dazu gehört, dass die Kinder eine große Anzahl von Aktivitäten ausüben, die Erwachsene beaufsichtigen, und dass ihre Eltern sie dafür häufig herumkutschieren. Die Eltern sind in sämtliche Aspekte des Lebens ihrer Kinder involviert. Sie unternehmen gemeinsame Anstrengungen, um einen steten Strom von Lernerfahrungen zu generieren.
Das Tempo ist strapaziös. Auseinandersetzungen um Hausaufgaben sind an der Tagesordnung. Aber Kinder, die so erzogen werden, finden sich in der Welt organisierter Institutionen zurecht. Sie sind in der Lage, sich ungezwungen mit Erwachsenen zu unterhalten, vor einem großen Publikum aufzutreten, sie blicken anderen Menschen in die Augen und hinterlassen einen guten Eindruck. Manchmal sind sie sogar schon in der Lage, die Folgen von Handlungen abzuschätzen.
Als Lareau Unterschichtseltern das Lernpensum zeigte, das eine der Akademikerfamilien ihren Kindern abverlangte, waren jene entsetzt über die Anforderungen und den Stress. Sie glaubten, die Kinder aus der gebildeten Schicht müssten unglaublich bedrückt sein. Lareau fand heraus, dass in der Unterschicht Kinder ganz anders erzogen werden. Dort besteht eine viel stärkere Abgrenzung zwischen der Welt der Erwachsenen und der Welt der Kinder. Unterschichtseltern glauben im Allgemeinen, dass die Sorgen und Nöte des Erwachsenseins früh genug kommen und dass die Kinder ihre Freizeit selbst gestalten sollten. Als ein Mädchen, das Lareau beobachtete, seine Mutter bat, ihm zu helfen, aus Schachteln eine Puppenstube zu bauen, lehnte die Mutter dies ab, »beiläufig und ohne Schuldgefühl« – die Spielzeit wurde von ihr für unwichtig gehalten, sie sah sie als Sphäre des Kindes an, wo ein Erwachsener nichts verloren hat.
Lareau zufolge wirkten die Kinder aus der Unterschicht entspannter und dynamischer. Sie hatten mehr Kontakt mit ihren Großfamilien. Weil ihre Eltern sie nicht so sehr zu Aktivitäten drängten – sie nicht von einem Programmpunkt zum nächsten fahren konnten –, war ihre Freizeit weniger strukturiert. Sie durften rausgehen und mit den Kindern spielen, die sie in der Nachbarschaft gerade antrafen. Sie spielten häufiger mit Kindern aller Altersstufen. Sie beklagten sich seltener über Langeweile. Sie fragten ihre Mütter sogar um Erlaubnis, bevor sie sich etwas zu essen aus dem Kühlschrank nahmen. »Quengeln und Greinen, das in Mittelschichtsfamilien häufig anzutreffen war, war in Arbeiter- und armen Haushalten selten«, schreibt Lareau. 2
Harolds Kindheit passt in die erste von Lareaus Kategorien. Ericas Kindheit dagegen war so chaotisch, dass sie eine Art Wechselbad der Erziehungsstile durchmachte – manchmal war ihre Mutter vollkommen vernarrt in sie; manchmal hatte sie keine Mutter, sondern nur eine Patientin, um die sie sich kümmern und die sie vor dem völligen Zusammenbruch bewahren musste.
Der Erziehungsstil der Unterschicht hat viele Vorzüge, aber er bereitet Kinder nicht so gut auf das moderne Wirtschaftsleben vor. Erstens fördert er nicht die Entwicklung ausgeprägter sprachlichen Fähigkeiten. Die Sprache ist, wie Alva Noë geschrieben hat, »eine gemeinsame kulturelle Praxis, die nur von einer Person gelernt werden kann, die in einem besonderen kulturellen Ökosystem eine unter vielen ist«. 3 Bei Erica zu Hause wurde, wie in den meisten Arbeiterfamilien, schlichtweg weniger gesprochen. »In diesen Haushalten wird zwar unterschiedlich viel gesprochen«, schrieb Lareau, »aber insgesamt deutlich weniger als in Haushalten der Mittelschicht.« 4
Harolds Eltern plauderten fast unentwegt mit ihm, wenn er in der Nähe war. Bei Erica zu Hause dagegen lief nahezu immer der Fernseher. Ericas Mutter war einfach so erschöpft, dass sie nicht mehr viel Energie für kindgerechte Gespräche hatte. Wissenschaftler haben aufwendige Berechnungen erstellt, um die unterschiedlichen Wortflüsse in Mittel- und Unterschicht-Haushalten zu messen. Betty Hart und Todd Risley von der University of Kansas fanden heraus, dass in armen Familien aufgewachsene Kinder bis zum Alter von vier Jahren 32 Millionen Wörter weniger gehört haben als in Akademikerfamilien aufgewachsene Kinder. 5 Akademikerkinder hörten pro Stunde etwa 487 »Äußerungen«. Kinder aus Haushalten, die Sozialleistungen bezogen, hörten etwa 178. 6
Aber Unterschiede gab es nicht nur bei
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