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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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der Quantität, sondern auch, was den Umgangston und die darin enthaltene Emotionalität betraf. Harold badete in Anerkennung. Jede noch so kleine Leistung wurde mit einem überschwänglichen Loblied auf seine großartigen Fähigkeiten begrüßt. Erica hingegen hörte fast ebenso viele entmutigende wie ermutigende Äußerungen. Harolds Eltern fragten ihn ständig ab. Sie machten Ratespiele mit ihm und verwickelten ihn in anspruchsvolle Rededuelle mit Pseudo-Beleidigungen. Sie erklärten ihm unentwegt, weshalb sie gewisse Entscheidungen getroffen und bestimmte Verbote ausgesprochen hatten, und Harold hatte keine Scheu, ihnen zu widersprechen und Gründe anzuführen, weshalb sie falsch lagen. Harolds Eltern korrigierten auch seine Grammatik-Fehler, sodass er sich später nicht erst mühsam die Regeln der Grammatik aneignen musste. Er entschied sich intuitiv für die Option, die sich am besten anhörte. Diese Unterschiede in der sprachlichen Umgebung wurden in zahlreichen Studien mit Unterschieden bei IQ -Werten und schulischen Leistungen in Verbindung gebracht.
    Kurzum, Harolds Eltern investierten nicht nur Geld in ihn. Sie gaben Gewohnheiten, Wissen und kognitive Eigenschaften an ihn weiter. Harold war in eine meritokratische Schicht geboren worden, die durch Gene und Bildungseifer von Generation zu Generation stärker wurde.
    Erica kam nicht in den Genuss der meisten dieser unsichtbaren Vorteile. Sie lebte in einer viel instabileren Welt. Laut Martha Farah von der University of Pennsylvania haben arme Kinder einen höheren Stresshormon-Pegel als Kinder aus der Mittelschicht. Dies wirkt sich auf eine ganze Reihe kognitiver Systeme aus, wie etwa das Gedächtnis, die Erkennung von Mustern, die kognitive Steuerung (die Fähigkeit, scheinbar naheliegende, aber falsche Antworten auszusortieren) und die Sprachkompetenz. 7 Arme Kinder leben auch erheblich seltener mit ihren beiden leiblichen Eltern in einem Haushalt. Forschungen an kleinen Säugetieren haben gezeigt, dass bei Jungtieren, die ohne Vater aufwuchsen, die Synapsendichte im Gehirn geringer war als bei Tieren, die mit ihrem Vater aufwuchsen, was dazu führte, dass ihre Impulskontrolle schlechter war. 8 Es ist also nicht nur der Mangel an Geld und Entwicklungsmöglichkeiten, Armut und zerrüttete Familienverhältnisse können auch das Unbewusste verändern – die Art und Weise, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen und verstehen und was sie von ihrer Zukunft erwarten.
    Die Auswirkungen all dieser Unterschiede sind für jeden sichtbar: Die Wahrscheinlichkeit, dass Studenten aus dem ärmsten Viertel der Bevölkerung einen College-Abschluss machen, beträgt 8,6 Prozent. 9 Kinder aus dem einkommensstärksten Viertel der Bevölkerung haben dagegen eine 75-prozentige Chance auf einen College-Abschluss. Der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom James J. Heckman hat herausgefunden, dass 50 Prozent der Ungleichheit im Lebenseinkommen (Arbeitseinkommen über das gesamte Erwerbsleben) durch Faktoren bestimmt werden, die bereits vorliegen, wenn jemand 18 Jahre alt ist. 10 Die meisten dieser Unterschiede haben etwas mit unwillkürlichen, automatisierten Kompetenzen zu tun – das heißt mit Einstellungen, dem Auffassungsvermögen und verinnerlichten Normen und Werten. Bereits sehr früh klaffen diese Kompetenzen auseinander.
    Emergenz
    Als Erica in die achte Klasse ging – nicht auf der New Hope School, sondern auf einer herkömmlichen öffentlichen Schule –, gründeten zwei ehemalige Mitarbeiter der gemeinnützigen Organisation Teach for America (die sich zum Ziel gesetzt hat, die Bildungsungleichheit in den USA zu bekämpfen) ganz in der Nähe eine neue Highschool, die sie schlicht »Academy« nannten. Sie sollte die Kinder aufnehmen, die die New Hope absolviert hatten, und hatte ein ähnliches Ethos wie diese – mit Uniformen, Disziplin und speziellen Förderprogrammen.
    Die Gründer gingen von einer bestimmten Theorie über Armut aus. Sie konnten nicht letztgültig sagen, wodurch Armut verursacht wird, aber sie nahmen an, dass Armut das Ergebnis eines Zusammenwirkens vielfältiger Faktoren sei: des Verlusts von Arbeitsplätzen in der Industrie, rassischer Diskriminierung, der Globalisierung, kultureller Weitergabe, Pech, schlechter Politikgestaltung und etlichen weiteren Faktoren. Aber sie hatten auch ein paar wenig brauchbare Überzeugungen. Sie glaubten, dass auch sonst niemand wusste, was die Ursachen von Armut sind. Sie hielten es für sinnlos, nach dem einen

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