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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Hebel zu suchen, mit dem man Kinder aus der Armut herausheben könnte, weil es nicht eine Ursache dafür gibt. Sie glaubten, dass man, um dem generationenübergreifenden Teufelskreis der Armut zu entkommen, überall gleichzeitig ansetzen müsse.
    Als sie das Konzept für die Academy entwarfen, erarbeiteten sie eine Präsentation für potenzielle Privatspender, die sie später aber verwarfen, weil fast keiner der Geldgeber sie verstand. Doch die Prämisse, auf der die Präsentation basierte, lag ihnen weiterhin am Herzen. Diese Prämisse lautete, dass Armut ein emergentes System ist.
    Der Mensch hat praktisch seit Anbeginn der Geschichte versucht, seine Welt durch reduktionistisches Denken zu begreifen. Das bedeutet, dass er Dinge in ihre Bestandteile zerlegt, um auf diese Weise herauszufinden, wie sie funktionieren. Wie Albert-László Barabási in seinem einflussreichen Buch Linked geschrieben hat: »Der Reduktionismus war die Triebfeder hinter einem Großteil der wissenschaftlichen Forschung im 20. Jahrhundert. Um die Natur zu verstehen, so sagt er uns, müssten wir ihre Bestandteile entschlüsseln. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass wir das Ganze leicht begreifen können, sobald wir die Teile verstanden haben. Teile und herrsche; der Teufel steckt in den Details. Aus diesem Grund wurden wir jahrzehntelang dazu gezwungen, die Welt durch ihre Bestandteile zu verstehen. Man brachte uns bei, Atome und Superstrings zu erforschen, um das Universum zu verstehen; Moleküle, um Leben zu verstehen; einzelne Gene, um komplexe Verhaltensweisen zu verstehen; und Propheten, um den Ursprung von Modetrends und Religionen zu begreifen.« 11 Diese Sichtweise verleitet Menschen zu dem Glauben, sie könnten ein Problem verstehen, indem sie es in seine Einzelteile zerlegen. Sie könnten die Persönlichkeit eines Menschen verstehen, wenn sie nur alle seine genetischen und umweltbeeinflussten Eigenschaften herauspräparieren und untersuchen würden. Diese deduktive Erkenntnismethode ist die Spezialität der bewussten Kognition – jener Art von Kognition, die linear und logisch ist.
    Die Schwäche dieser Methode liegt darin, dass sie dynamische Komplexität, die das zentrale Merkmal jedes Menschen, jeder Kultur und jeder Gesellschaft ist, kaum erklären kann. Aufgrund dessen hat man in letzter Zeit der Struktur emergenter Systeme größere Beachtung geschenkt. Emergente Systeme liegen vor, wenn verschiedene Elemente zusammenkommen und ein Ganzes bilden, das größer ist als die Summe seiner Teile. Oder, um es anders auszudrücken, die Bestandteile eines Systems beeinflussen sich gegenseitig und aus ihrer Interaktion geht etwas völlig Neues hervor. So kann es zum Beispiel passieren, dass solche an sich harmlosen Dinge wie Luft und Wasser aufeinandertreffen und, aufgrund eines bestimmten Interaktionsmusters, ein Hurrikan entsteht. Laute und Silben kommen zusammen und erzeugen eine Geschichte, die eine emotionale Wucht hat, welche nicht auf ihre Bestandteile zurückgeführt werden kann.
    Emergente Systeme haben keinen zentralen Steuerungsmechanismus. Vielmehr ist es so, dass ein bestimmtes Interaktionsmuster, sobald es sich herausgebildet hat, das Verhalten der Bestandteile beeinflusst.
    Nehmen wir zum Beispiel an, eine Ameise in einer Kolonie stößt auf eine neue Nahrungsquelle. Keine Diktator-Ameise muss der Kolonie sagen, sie solle sich umorganisieren, um diese Quelle zu erschließen. Stattdessen trifft die erste Ameise im Verlauf ihrer üblichen Nahrungssuche zufällig auf die Futterquelle. Dann registriert eine weitere Ameise, die sich in der Nähe aufhält, dass die erste Ameise ihre Richtung geändert hat. Daraufhin bemerkt eine Nachbarin der zweiten Ameise deren Richtungswechsel, und schon bald ereignet sich das, was Steven Johnson folgendermaßen formuliert: »Lokale Information kann zu globalem Wissen führen.« 12 Die ganze Ameisenkolonie folgt nun einer Pheromon-Autobahn zu der neuen Nahrungsquelle. Die Veränderung wurde sehr schnell durch das gesamte System kommuniziert, und das gesamte »Gehirn« der Kolonie hat sich selbst umstrukturiert, um diesen neuen Umstand auszunutzen. Es gab keine bewusste Entscheidung zu einer entsprechenden Verhaltensänderung, sondern es bildete sich spontan ein Muster heraus, dem sich die anderen Ameisen automatisch anpassten.
    Emergente Systeme sind gut darin, Verhaltensmuster über Hunderte oder gar Tausende von Generationen weiterzugeben. Deborah Gordon von der Stanford University hat

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