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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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herausgefunden, dass Ameisen – wenn eine Königin unter ihnen ist – eine Kolonie gründen, wenn man sie in eine große Plastikwanne setzt. 13 Sie legen auch einen Friedhof für tote Ameisen an, und dieser Friedhof wird so weit wie möglich entfernt sein von der Kolonie. Auch eine Müllhalde legen sie an, und die wird wiederum möglichst weit weg sowohl von der Kolonie wie vom Friedhof sein. Keine einzelne Ameise hat diese Raumordnung erarbeitet. Tatsächlich überblickt auch keine einzelne Ameise die gesamte Struktur. Stattdessen haben einzelne Ameisen auf lokale Reize reagiert. Andere Ameisen passen sich an die Signale einiger weniger Ameisen an, und schon bald hat die ganze Kolonie ein Verhaltensmuster entwickelt. Sobald sich dieses Muster einmal ausgebildet hat, kann dessen »Intelligenz« über Tausende von Generationen fortbestehen. Die Muster beeinflussen das Verhalten der einzelnen Elemente.
    Überall gibt es emergente Systeme. Das Gehirn ist ein emergentes System. Kein einzelnes Neuron im Gehirn enthält die Vorstellung beispielsweise eines Apfels, sondern aus dem Entladungsmuster von Millionen von Neuronen geht die Vorstellung von einem Apfel hervor. Genetische Weitergabe ist ein emergentes System. Aus den komplexen Wechselwirkungen zwischen vielen verschiedenen Genen und vielen verschiedenen Umgebungen können gewisse Charaktereigenschaften wie Aggressivität hervorgehen.
    Eine Ehe ist ein emergentes System. Francine Klagsbrun hat beobachtet, dass sich bei einer Paartherapie – neben dem Therapeuten – immer drei Personen im Raum befinden: der Mann, die Frau und die Ehe selbst. Die Ehe ist die lebende Geschichte all der Dinge, die zwischen Mann und Frau passiert sind. Sobald sich Muster herausgebildet und in ihren beiden Gehirnen verankert haben, beginnt die Ehe selbst ihr individuelles Verhalten zu prägen. Obgleich sie in dem Raum zwischen ihnen existiert, hat sie einen ganz eigenständigen Einfluss.
    Kulturen sind emergente Systeme. Es gibt nicht eine Person, die die Merkmale der amerikanischen oder französischen oder chinesischen Kultur verkörpert. Es gibt keinen Diktator, der die Verhaltensmuster festlegt, die eine Kultur ausmachen. Aber aus den Handlungen und Beziehungen von Millionen von Individuen gehen gewisse Regelmäßigkeiten hervor. Sobald diese zu Gewohnheiten werden, werden sie von zukünftigen Individuen unbewusst übernommen.
    Armut, so glaubten die beiden Gründer der Academy, ist ebenfalls ein emergentes System. Menschen, die in großer Armut leben, sind in komplexe Ökosysteme eingebunden, die niemand vollständig überblicken und verstehen kann.
    Im Jahr 2003 veröffentlichte Eric Turkheimer von der University of Virginia eine Studie, die zeigt, dass das Aufwachsen in Armut zu einem niedrigeren IQ führen kann. Journalisten fragten ihn daher aus naheliegenden Gründen, was man tun könne, um die Entwicklung der Intelligenz bei armen Kindern zu fördern. Turkheimer erwiderte: »Die ehrliche Antwort auf diese Frage lautet, dass ich nicht glaube, dass es in der Umwelt armer Menschen einen bestimmten Faktor gibt, der für die negativen Folgen der Armut verantwortlich ist.« 14
    Turkheimer verbrachte Jahre mit dem Versuch, herauszufinden, welche Aspekte des Aufwachsens in einem armen Umfeld die negativsten Ergebnisse hervorbrachten. Mühelos konnte er den Gesamteffekt von Armut nachweisen, doch wenn er versuchte, die Auswirkungen spezifischer Variablen zu messen, kam er zu keinen eindeutigen Resultaten. Er führte eine Meta-Analyse an 43 Studien durch, die der Frage nachgingen, welche spezifischen Elemente in den Lebensumständen eines Kindes sich am stärksten auf dessen kognitive Defizite auswirken. Den Studien gelang es nicht, die besondere Wirksamkeit eine spezifische Variablen nachzuweisen, auch wenn der Gesamteffekt aller Variablen zusammengenommen sehr deutlich war.
    Dies bedeutet nicht, dass man nichts unternehmen sollte, um die Auswirkungen von Armut abzumildern. Es bedeutet, dass man nicht versuchen sollte, diese Effekte in einzelne Bestandteile zu zerlegen. Die Wirkungen gehen auf das gesamte emergente System zurück. Turkheimer schreibt: »Bei freilebenden Menschen werden komplexe Verhaltensweisen nicht durch ein lineares, additives Bündel von Ursachen hervorgerufen. Jedes wichtige Ergebnis, wie etwa die Delinquenz von Jugendlichen, hat eine Vielzahl miteinander verbundener Ursachen, und jede dieser Ursachen hat eine Unzahl potenzieller Wirkungen, sodass die Komplexität

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