Das soziale Tier
Haschisch und Spiegel mit Kokainresten in der Wohnung herumlagen. Amy duschte sich nicht und benutzte auch kein Deo. Zu Hause blieb alles liegen. Als Erica noch ein Baby war und ihre Mutter ihre depressiven Phasen hatte, füllte Amy einfach Pepsi in ihr Fläschchen, um sie ruhig zu kriegen. Später setzte sie ihr Cheerios als Abendbrot vor. Tagelang ernährten sich die beiden nur von Mortadella aus der Bodega an der Ecke. Mit neun lernte Erica, wie man ein Taxi ruft, damit sie ihre Mutter in die Notaufnahme bringen konnte, wenn sie mal wieder Herzrasen hatte, wie sie es anderen gegenüber nannte. Sie lernte, im Dunkeln zu leben, weil ihre Mutter die Fenster zugeklebt hatte.
In diesen Phasen ließ ihr Vater sich nicht blicken. Er war Amerikaner mit mexikanischen Wurzeln. (Diese genetische Mischung war für ihr bemerkenswertes Aussehen verantwortlich.) Ericas Vater war ein zwiespältiger Charakter, bezaubernd und gescheit, aber nicht gerade die Zuverlässigkeit in Person. Mit der Wahrheit nahm er es nicht so genau. Wenn er betrunken Auto fuhr und dabei gegen einen Hydranten stieß, dachte er sich irgendeine abenteuerliche Geschichte dazu aus, etwa, sein Auto sei von einem Bus, der außer Kontrolle geraten sei, gerammt worden. Fremden gegenüber tischte er unterschiedlichste Versionen seiner Lebensgeschichte auf. Seine Lügen waren allerdings so hanebüchen, dass Erica sie schon als junges Mädchen durchschaute.
Außerdem sprach er fortwährend über seine Selbstachtung. Seine Selbstachtung hielt ihn davon ab, eine Arbeit anzunehmen, bei der er andere Menschen bedienen musste. Seine Selbstachtung veranlasste ihn dazu, jedes Mal, wenn Amy ihre herrschsüchtige Seite hervorkehrte, Reißaus zu nehmen. Er verschwand für Wochen und Monate und tauchte dann mit Pampers wieder auf, selbst als Erica schon fünf oder sechs war. Er kam und ging und beklagte sich trotzdem, dass ihm Amy und Erica sein gesamtes Geld aus der Tasche zogen.
Dennoch hasste Erica ihn nicht, so wie einige ihrer Freundinnen ihre Väter hassten, die kamen und gingen. Wenn er da war, war er witzig und einfühlsam. Er hielt engen Kontakt zu seinen eigenen Eltern, Brüdern und Cousins, und er nahm Erica oft zu großen Familientreffen mit. Er machte Ausflüge mit Erica und ihren Stiefgeschwistern und veranstaltete Partys. Er war sehr stolz auf sie und erzählte allen, wie intelligent sie sei. Ins Gefängnis kam er nie, und er misshandelte sie auch nicht, aber aus irgendeinem Grund blieb er nie länger bei einer Arbeit. Er konnte sich vorübergehend für etwas begeistern, aber er brachte es dabei nie zu etwas.
Beide Eltern liebten Erica abgöttisch. In der Anfangszeit ihrer Beziehung hatten sie vorgehabt, zu heiraten und, ganz konventionell, ein Haus zu bauen. Laut einer Studie von Fragile Families planen 90 Prozent der Paare, die zum Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes zusammenleben, eines Tages zu heiraten. 1 Aber Ericas Eltern setzten, wie viele, diesen Plan nie in die Tat um. Laut besagter Studie waren nur 15 Prozent der unverheirateten Paare, die heiraten wollten, zum Zeitpunkt des ersten Geburtstags ihres Kindes tatsächlich verheiratet.
Es gab viele Gründe dafür, dass sie es letztlich nicht taten. Der äußere soziale Druck, zu heiraten, war bei ihnen sehr gering. Sie vertrauten sich nicht hundertprozentig. Sie konnten sich die prächtige Heirat, von der sie träumten, nie leisten. Sie hatten Angst vor einer Scheidung und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten. Am wichtigsten aber war, dass der kulturelle Transmissionsriemen gerissen war. Etliche Jahrzehnte lang galt es in Amerika als selbstverständlich, dass Paare mit Kindern heirateten – als ein fester Bestandteil des Eintritts ins Erwachsenenalter sozusagen. Aber aus irgendeinem Grund wurden diese festgelegten Lebensentwürfe nicht mehr weitergegeben, zumindest in einigen Subkulturen nicht, sodass eine Entscheidung, die ehedem unwillkürlich getroffen wurde und sozusagen im Gehirn bereits »voreingestellt« war, mittlerweile mit Absicht herbeigeführt werden musste. Heirat war nicht länger die »Standardeinstellung«, sondern dafür bedurfte es nun eines gezielten Entschlusses. Bei Ericas Eltern kam es nie dazu.
Was war Ericas sozioökonomischer Status? Das hing vom Monat ab. Es gab Zeiten – wenn ihre Mutter leistungsfähig und ihr Vater da war –, in denen ihr Lebensstandard dem der Mittelschicht entsprach. In anderen Jahren dagegen glitten sie in die Armut und in ein anderes soziales
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