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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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wollte keinen Wirbel um die Schule machen und Gefahr laufen, die Wohnung räumen zu müssen. Als die Sachbearbeiterin noch einmal sagte, Erica habe »keinen Rechtsanspruch« auf einen Schulplatz in diesem Schulbezirk, stand Ericas Mutter auf und wollte gehen. Erica rührte sich nicht von der Stelle. Sie stellte sich bereits vor, wie sich ihre Mutter auf der Heimfahrt im Bus verhalten würde; sie würde die Sachbearbeiterin verfluchen, und die ganze Wut, der sie hier im Büro hätte Luft machen sollen, würde aus ihr herausbrechen. Außerdem war die Sachbearbeiterin eine blöde Zicke, die sich für was Besseres hielt. Sie hatte sie kaum eines Blickes gewürdigt, sondern Kaugummi kauend auf ihre Papiere geguckt. Und sie hatte nicht einmal versucht zu lächeln.
    Erica klammerte sich an ihrem Stuhl fest, als ihre Mutter aufstand und zur Tür ging. »Ich will auf die New Hope School gehen!«, sagte sie stur.
    »Ihr seid nicht in dem Stadtviertel gemeldet«, sagte die Mitarbeitern des Sozialamtes noch einmal. »Du hast keinen Anspruch darauf.«
    »Ich will auf die New Hope gehen!«
    Erica konnte keine Argumente vorbringen, keine logische Erklärung, sie hatte nur das heftige Gefühl, dass ihre Mutter diese Abfuhr nicht einfach schlucken sollte. Ihre Mutter, die mittlerweile etwas unruhig wurde, flehte sie an, aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Doch Erica wollte nicht. Sie klammerte sich noch fester an den Stuhl. Ihre Mutter zog an ihr, aber Erica ließ nicht locker. Ihre Mutter zischte sie wütend an, sie wollte unter keinen Umständen eine Szene machen. Erica rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Ihre Mutter zerrte heftiger an ihr, und der Stuhl fiel mit Erica darauf um.
    »Soll ich die Polizei rufen?«, fauchte die Sachbearbeiterin. »Willst du da drüben eingesperrt werden?« Sie zeigte auf das Fenster hinter sich: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich die Jugendstrafanstalt.
    Erica hielt sich noch immer am Stuhl fest, und bald zerrten drei oder vier Leute gleichzeitig an ihr, darunter auch ein Wachmann. »Ich will auf die New Hope!« Sie heulte, ihr wutverzerrtes Gesicht war tränenüberströmt. Schließlich gelang es ihnen, sie loszubekommen. Der Wachmann schrie sie an. Ihre Mutter brachte das wütende kleine Mädchen nach Hause.
    Sie schimpfte sie nicht aus, sie sagte kein Wort. Schweigend fuhren sie heim. An diesem Abend wusch die Mutter Ericas Haar über dem Waschbecken, und sie plauderten freundlich über andere Dinge.
    Ericas Mutter, Amy, war innerhalb ihrer Familie diejenige, die am ehesten in der Gefahr des sozialen Abstiegs schwebte. Ihre Eltern waren aus China eingewandert, und all ihren anderen Verwandten ging es gut. Amy hingegen litt an einer psychischen Erkrankung, der sogenannten bipolaren Störung, bei der sich manische und depressive Phasen abwechseln. Wenn sie sich in Hochstimmung befand, verfügte sie über unglaublich viel Energie und verhielt sich so, wie man es von dem Mitglied einer Vorzeige-Minderheit erwartete. Mit Anfang 20 verbrachte sie jeweils mehrere Monate an verschiedenen Colleges, Ausbildungszentren und Berufsschulen. Sie machte eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin. Außerdem lernte sie Softwareprogramme in der Hoffnung, eine IT -Fachfrau zu werden. Sie hatte zwei Jobs gleichzeitig und schuftete mit einer Zähigkeit, die, wie sie sagte, ein Erbe ihrer bäuerlichen Vorfahren in China war.
    Während dieser glücklichen Monate ging sie mit Erica zum All-you-can-eat-Büfett im Golden Corral und kaufte ihre neue Kleidung und Schuhe. Sie versuchte dann auch, Ericas Leben zu kontrollieren, sagte ihr, was sie anziehen solle und welche ihrer Freundinnen sie nicht treffen dürfe (die meisten, denn sie übertrugen Bakterien). Sie gab Erica ein zusätzliches Lektürepensum auf, damit sie die anderen Kinder überflügelte. Amy brachte ihr sogar chinesische Kalligrafie bei, mit Pinseln, die sie im Wandschrank weggeschlossen hielt. Ihre Pinselstriche hatten eine Leichtigkeit und einen Rhythmus, die Erica ihrer Mutter nicht zugetraut hätte. »Wenn du Kalligrafie übst, musst du anders denken«, pflegte Amy ihr zu sagen. Ein paar Jahre lang nahm Erica sogar Unterricht im Eiskunstlaufen.
    Aber dann gab es auch die Phasen der Depression. Amy verwandelte sich innerhalb weniger Tage von einer Sklaventreiberin in ein Häufchen Elend, sodass Erica die Mutterrolle spielen musste. Dann war es an der Tagesordnung, dass Bacardi- und Manischewitz-Cream-Flaschen,

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