Das soziale Tier
Milieu ab. Dieser Abrutsch zwang sie dazu, in Problemviertel umzuziehen. In einem Monat lebten sie in einer Umgebung mit intakten Familien und niedriger Kriminalität. Aber dann konnten sie die Miete nicht mehr bezahlen und mussten sich abstrampeln, um eine Wohnung in einem anderen Viertel zu finden – einem Viertel mit unbebauten Grundstücken, hoher Kriminalität und unterschiedlichsten Lebensarrangements in den einzelnen Wohnungen.
Erica sollte sich ihr ganzes Leben lang an diese Szenen erinnern – die kleinen Plastikbeutel, in denen sie ihre Habseligkeiten mitnahmen, der Abschied von dem bescheidenen Wohlstand, wie sie vorübergehend zu dritt im Gästezimmer eines Verwandten oder Freundes leben mussten, und dann der deprimierende erste Besuch in der heruntergekommenen leeren Wohnung in irgendeinem halbverlassenen Viertel, das zeitweilig ihr neues Zuhause sein würde.
In diesen neuen Vierteln gab es weniger Arbeit. Es gab weniger Geld. Es gab weniger Männer, weil viele im Gefängnis waren. Es gab mehr Verbrechen. Aber nicht nur die materiellen Dinge waren anders, die Denkmuster und die Verhaltensweisen waren es auch.
Die Menschen in den ärmeren Vierteln wollten die gleichen Dinge wie alle anderen: stabile Ehen, gute Arbeitsplätze, eine geordnete Lebensweise. Aber sie lebten in einem Teufelskreis aus materiellem und psychischem Stress. Geldmangel veränderte den kulturellen Rahmen ihrer Lebensweise, und eine selbstzerstörerische Lebenskultur führte zu Geldmangel. Die mentalen und materiellen Rückkopplungsschleifen erzeugten charakteristische psychische Dispositionen. Einige Menschen in diesen Vierteln hatten nur bescheidene Ziele im Leben oder sie hatten gar keine. Einige hatten den Glauben daran verloren, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können. Einige trafen unverständliche Entscheidungen, über deren verheerende langfristige Folgen sie sich zwar vollkommen im Klaren waren, die sie aber trotzdem nicht davon abbringen konnten.
Viele Menschen in diesen Vierteln waren aufgrund von Überarbeitung und chronischem Stress ständig erschöpft. Vielen fehlte es an Selbstvertrauen, auch wenn sie nach außen so taten, als hätten sie mehr als genug davon. Viele lebten in einem Zustand ständiger Anspannung und hatten eine Krise nach der anderen zu bewältigen. Es gab grauenhafte Geschichten. Ein Mädchen, das Erica kannte, erstach in einem Wutanfall eine Klassenkameradin und ruinierte so schon im Alter von 15 Jahren sein Leben. Erica begriff, dass man in dieser Umgebung niemals Schwäche zeigen durfte. Man durfte niemals klein beigeben oder Kompromisse schließen. Man durfte sich von niemandem etwas gefallen lassen.
Um mit diesen schwierigen Verhältnissen zurechtzukommen, organisierten die Mütter Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung und gingen sich bei der Kinderbetreuung, der Versorgung mit Nahrungsmitteln und anderem mehr zur Hand. Innerhalb der Netzwerke kümmerten sie sich umeinander, doch allem, was jenseits davon lag – Behörden, der Politik, der Welt der Mittelschicht –, begegneten sie mit starker Ablehnung. Sie strahlten Misstrauen aus – das zum größten Teil berechtigt war. Sie glaubten, jeder wolle ihnen schaden: Jeder Ladenbesitzer wolle sie übers Ohr hauen, jeder Sozialamtsmitarbeiter wolle ihnen etwas wegnehmen.
Kurzum, jedes Viertel hatte seinen eigenen Verhaltenskodex, seine eigenen unausgesprochenen Normen darüber, wie man gehen, einander begrüßen, Fremde behandeln und die Zukunft sehen sollte. Erica bewältigte das Pendeln zwischen diesen verschiedenen Lebenswelten erstaunlich leicht, zumindest an der Oberfläche. Für sie war es so, als würde sie von einem Land in ein anderes wechseln. Im Land der Mittelschicht lebten Männer und Frauen in relativ stabilen Verhältnissen, im Land der Armut taten sie das nicht. Im Land der Mittelschicht wurden Kinder in dem Bewusstsein erzogen, dass sie später einmal studieren würden. Im Land der Armut wurden sie das nicht.
Annette Lareau von der University of Pennsylvania erforscht, welche kulturellen Normen in verschiedenen Schichten der amerikanischen Gesellschaft maßgeblich sind. Sie und ihre Mitarbeiter haben über 20 Jahre damit verbracht, auf den Böden von Wohnzimmern zu sitzen und auf den Rücksitzen von Autos mitzufahren, um zu beobachten, wie Familien funktionieren. Lareau hat herausgefunden, dass Akademikerfamilien und Familien aus der Unterschicht grundsätzlich andere Theorien und Methoden haben, was die
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