Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
bückte mich, um die Äpfel, die Flasche Milch und den Karton mit Eiern einzusammeln, die gnädigerweise heil geblieben waren. »Ich habe nicht aufgepasst, wohin ich gehe.« Ich hob den Blick, weil mir bewusst wurde, dass die Person, mit der ich sprach, nicht antwortete, und war völlig perplex, als ich sah, wer da vor mir stand. »Sylvia«, sagte ich.
»Tristan?«, antwortete sie und starrte mich an. »Das kannst nicht du sein.«
Ich zuckte mit den Schultern und bedeutete ihr, dass ich es tatsächlich war, und sie sah einen Moment lang weg, stellte den Korb auf die Bank neben uns und biss sich auf die Lippe. Ihre Wangen waren leicht gerötet, vielleicht aus Verlegenheit, vielleicht aus Verwirrung. Ich fühlte mich in keiner Weise verlegen, trotz allem, was sie über mich wusste. »Schön, dich zu sehen«, sagte ich endlich.
»Finde ich auch«, sagte sie und hielt unbeholfen ihre Hand in meine Richtung, die ich schüttelte. »Du hast dich kaum verändert.«
»Ich hoffe, das stimmt nicht«, sagte ich. »Es ist jetzt anderthalb Jahre her.«
»Wirklich?«
»Ja«, sagte ich und betrachtete sie genauer. Es gab ein paar kleine Veränderungen. Sie war immer noch eine Schönheit. Vielleicht war sie sogar noch schöner geworden, jetzt, da sie siebzehn war, aber das war zu erwarten gewesen. Ihr sonnenblond leuchtendes Haar lag locker auf ihren Schultern. Sie war schlank, und was sie trug, betonte ihre Figur. Ihr roter Lippenstift verlieh ihr etwas Exotisches, und ich fragte mich, woher sie ihn haben mochte. Die Typen auf der Baustelle suchten ständig nach Lippenstiften oder Seidenstrümpfen für ihre Freundinnen, doch das waren Luxusartikel, an die man nicht so leicht herankam.
»Was für eine komische Situation, oder?«, sagte sie schließlich, und ich bewunderte sie dafür, nichts vortäuschen zu wollen.
»Ja«, sagte ich. »Ein bisschen schon.«
»Wünschst du dir nie, der Boden würde sich auftun und dich verschlucken?«
»Manchmal«, gab ich zu. »Aber nicht mehr so oft wie früher.«
Sie schien darüber nachzudenken und fragte sich womöglich, was genau ich damit meinte. Ich wusste es selbst nicht recht. »Und, wie geht’s dir so?«, fragte sie. »Du siehst gut aus.«
»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Und dir?«
»Ich arbeite in einer Fabrik, falls du das glauben kannst«, antwortete sie und verzog das Gesicht. »Hättest du je gedacht, dass ich mal als Fabrikarbeiterin ende?«
»Das ist doch längst noch nicht dein Ende. Wir sind gerade mal siebzehn.«
»Es ist nicht ideal, aber ich habe das Gefühl, dass ich was tun muss.«
»Ja«, sagte ich.
»Und du?«, fragte sie vorsichtig. »Du bist noch nicht …«
»Morgen früh«, erklärte ich ihr. »Nach Aldershot.«
»Oh, ich kenne ein paar, die da waren. Sie meinten, so schlimm sei es gar nicht.«
»Das werde ich schnell genug selbst herausfinden«, sagte ich und überlegte, wie lange das noch so weitergehen mochte. Es fühlte sich falsch an, befangen, und ich hatte den Eindruck, dass wir beide lieber offener wären und ohne großes Getue miteinander reden würden.
»Bist du gekommen, um deine Familie zu besuchen?«, fragte sie.
»Ja«, sagte ich. »Ich dachte, es wäre nicht schlecht, sie noch mal zu sehen, bevor es losgeht. Vielleicht ist es das letzte Mal.«
»Sag das nicht, Tristan.« Sie strich mir über den Arm. »Das bringt Unglück. Du willst dich doch nicht selbst verhexen.«
»Entschuldige«, sagte ich. »Ich meinte nur, dass es wohl das Richtige sei, noch einmal herzukommen. Es ist jetzt … nun, ich habe schon gesagt, wie lange es her ist.«
Sie wirkte verlegen. »Sollen wir uns einen Moment setzen?«, fragte sie und sah auf die Bank. Ich zuckte mit den Schultern, und wir setzten uns.
»Ich wollte dir schreiben«, sagte sie. »Nicht gleich, aber später. Als ich begriff, was wir dir angetan hatten.«
»Es war ja nicht dein Fehler.«
»Nein, aber ich war daran beteiligt. Weißt du noch das eine Mal, als wir uns geküsst haben? Unter der Kastanie?«
»Als wäre es gestern gewesen«, sagte ich und musste fast lachen. »Da waren wir noch Kinder.«
»Vielleicht«, sagte sie. »Aber ich war so vernarrt in dich.«
»Wirklich?«
»O ja. Ich hatte nur dich im Kopf.«
Ich dachte darüber nach. Es kam mir komisch vor, dass sie das sagte. »Es hat mich damals überrascht, dass du Peter nicht lieber mochtest.«
»Ich weiß auch nicht, warum«, sagte sie. »Ich meine, er war wirklich prima. Ich habe ihn sehr gemocht, aber ein Paar wurden
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