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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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zog die Brauen zusammen. »Was gesagt?«
    »Sie war meine Schwester, Himmel noch mal.«
    Er besaß den Anstand, den Blick zu senken, die Fleischstücke anzustarren, die vor ihm lagen, und nicht gleich zu antworten. Ich sah, wie er wieder schluckte, seine Antwort überdachte, mich mit dem leisen Anflug eines Bedauerns anblickte und sich dann, vielleicht, weil er es selbst auch spürte, mit der blutverschmierten Hand über Augen und Wange fuhr und den Kopf schüttelte.
    »Das hatte nichts mit dir zu tun«, sagte er. »Das war eine Familienangelegenheit.«
    »Sie war meine Schwester«, wiederholte ich und spürte, dass mir die Tränen kamen.
    »Es war eine Familienangelegenheit.«
    Einen Moment lang schwiegen wir beide. Draußen vorm Schaufenster wurde eine Frau langsamer und sah sich die Auslage an, hob den Blick, schien es sich anders zu überlegen und ging weiter.
    »Wie hast du es überhaupt erfahren?«, fragte er endlich.
    »Ich habe Sylvia getroffen«, sagte ich. »Gerade eben. Ich kam vom Bus, und es war reiner Zufall, dass wir uns begegnet sind. Sie hat es mir erzählt.«
    »Sylvia«, sagte er und schnaubte verächtlich. »Die wird auch nicht besser. Die war damals schon schnell und ist es heute noch.«
    »Ihr hättet mir schreiben können«, sagte ich und weigerte mich, von jemand anderem als Laura zu sprechen. »Ihr hättet mich suchen und es mir sagen können. Wie lange war sie krank?«
    »Ein paar Monate.«
    »Hatte Sie Schmerzen?«
    »Ja. Schlimme Schmerzen.«
    »Großer Gott«, sagte ich und krümmte mich leicht vor, weil ich einen Stich im Bauch verspürte.
    »Himmel noch mal, Tristan«, sagte er, kam hinter der Theke hervor und stellte sich vor mich. Ich konnte mich gerade noch zusammenreißen, um nicht angeekelt zurückzuweichen. »Du hättest nichts tun können, um ihr zu helfen. Es war einfach einer von diesen Fällen. Wie ein Feuer hat es sich in ihrem Körper ausgebreitet.«
    »Ich hätte sie sehen wollen«, sagte ich. »Ich bin ihr Bruder.«
    »Nicht mehr«, sagte er in beiläufigem Ton. »Du warst es einmal, nehme ich an. So weit gebe ich dir recht. Aber das ist lange her. Ich glaube, sie hatte dich am Ende so gut wie vergessen.«
    Zu meiner Überraschung legte er mir einen Arm um die Schultern, und ich dachte, er wollte mich umarmen, doch stattdessen drehte er mich um und schob mich langsam zur Tür.
    »Die Wahrheit ist, Tristan«, sagte er, während er mich zurück auf die Straße führte, »dass du genauso wenig noch ihr Bruder warst, wie du mein Sohn bist. Wir sind nicht deine Familie. Du hast hier nichts verloren, und es wäre das Beste für uns alle, wenn dich die Deutschen gleich erwischten.«
    Er machte die Tür hinter mir zu und wandte sich ab. Ich sah, wie er einen Moment lang vor der Vitrine zögerte, die verschiedenen Fleischstücke betrachtete und sie in seinem Kopf durchzählte, bevor er wieder im Kühlraum und für immer aus meinem Leben verschwand.
    »Vielleicht war das nicht in Ordnung«, sagte Marian, als wir zurück durch die Stadt Richtung Bahnhof gingen. »Ich habe Sie regelrecht in einen Hinterhalt gelockt. Sie so mit meinen Eltern zusammenzubringen.«
    »Ist schon gut«, sagte ich, steckte mir eine lang ersehnte Zigarette an, füllte mir die Lunge mit Rauch und wartete darauf, dass sich meine Nerven beruhigten. Das Einzige, was dem an Genuss hätte gleichkommen können, wäre ein Glas kaltes Bier gewesen. »Sie haben gute Eltern.«
    »Ja, das habe ich wohl. Wir treiben uns tagtäglich gegenseitig die Wände hoch, aber das ist nicht anders zu erwarten. Wenn ich es mir aussuchen könnte, hätte ich gerne mein eigenes Zuhause. Dann würden sie mich besuchen, wir könnten Freunde sein, und es wäre Schluss mit den ständigen Streitereien.«
    »Ich bin sicher, Sie heiraten eines Tages«, sagte ich.
    »Mein eigenes Zuhause«, sagte sie. »Nicht das eines anderen. So wie Sie.«
    »Ich habe nur eine kleine Wohnung«, sagte ich. »Sie ist bequem, ja, aber glauben Sie mir, mit dem, was Sie hier haben, nicht zu vergleichen.«
    »Aber es ist ganz allein Ihre, oder? Sie sind niemandem gegenüber zu etwas verpflichtet.«
    »Hören Sie, Sie müssen mich wirklich nicht bis zum Bahnhof bringen«, erklärte ich ihr. »Ich will nicht undankbar erscheinen, aber ich bin sicher, dass ich den Weg finden werde.«
    »Ist schon gut«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Es macht mir nichts. Und jetzt sind wir schon so weit zusammen gegangen.«
    Ich nickte. Der Abend senkte sich herab, der Himmel

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