Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
haben, denn erst als wir den Bahnhof betraten, blieb sie stehen, zog ihren Arm zurück und nahm unser Gespräch wieder auf.
»Ich weiß, er war kein Feigling, Mr Sadler«, begann sie. »Ich weiß das, und ich muss die Wahrheit darüber wissen, was tatsächlich geschehen ist.«
»Marian, bitte«, erwiderte ich und sah weg.
»Da gibt es etwas, das Sie mir nicht sagen«, setzte sie nach. »Etwas, das Sie mir eigentlich schon den ganzen Tag sagen wollen, aber Sie haben es nicht über sich gebracht. Das merke ich doch, so dumm bin ich nicht. Sie wollen es mir unbedingt erzählen. Also, Tristan, hier sind wir nun, nur wir zwei, und ich will, dass Sie mir genau erklären, was es ist.«
»Ich muss nach Hause«, sagte ich nervös. »Mein Zug …«
»Ihr Zug fährt erst in vierzig Minuten«, sagte sie mit einem Blick zur Uhr. »Wir haben noch Zeit. Bitte.«
Ich holte tief Luft und dachte nach. Soll ich es ihr erzählen? Darf ich es ihr erzählen?
»Ihre Hand, Tristan«, sagte sie. »Was ist mit der?«
Ich hielt sie flach vor mich hin und sah zu, wie der Zeigefinger unregelmäßig zuckte. Betrachtete ihn und zog die Hand zurück.
»Ich werde Ihnen erzählen, wie es war«, sagte ich endlich. »Wenn Sie es wirklich wollen.«
»Aber natürlich will ich das. Ich glaube nicht, dass ich weitermachen kann, wenn ich es nicht erfahre.«
Ich sah sie eine Weile an und überlegte.
»Ich werde Ihre Fragen beantworten«, sagte ich leise. »Ich werde Ihnen alles beantworten. Alles über jenen letzten Tag. Ich bin nur nicht sicher, ob Ihnen das Trost verschaffen wird. Und Sie werden mir gewiss nicht vergeben können.«
»Das macht nichts«, sagte sie und setzte sich auf eine Bank. »Nicht Bescheid zu wissen ist das Schlimmste.«
»Also gut«, sagte ich und setzte mich neben sie.
Der sechste Mann
Frankreich, September bis Oktober 1916
H obbs ist verrückt geworden. Er steht vor meinem Unterschlupf und starrt mich an, die Augen scheinen ihm aus dem Kopf zu wollen, und dann legt er eine Hand über den Mund und fängt an zu kichern wie ein Schulmädchen.
»Was ist los mit dir?«, frage ich und sehe zu ihm hoch. Ich bin nicht in der Stimmung für Albereien. Als Antwort darauf lacht er nur noch hysterischer als zuvor, mit unkontrollierbarer Heiterkeit.
»Nicht so laut!«, ruft eine Stimme von irgendwo her. Hobbs dreht sich in die Richtung, verstummt augenblicklich und läuft mit einer obszönen Bemerkung davon. Ich denke nicht weiter darüber nach und schließe die Augen, doch schon Minuten später dringt ein ungeheurer Tumult von weiter unten den Graben herauf, und es scheint unwahrscheinlich, dass ich noch weiterschlafen kann.
Vielleicht ist der Krieg ja zu Ende.
Ich gehe in die Richtung, aus der der Lärm kommt, und stoße auf einige Männer, die Warren festhalten. Warren ist etwa sechs, sieben Wochen hier, schätze ich, er ist ein Cousin von Shields, der längst tot ist, und vor ihm auf dem Boden kauert Hobbs in biblischer Sünderhaltung, lacht jedoch noch immer. Ein paar Männer scheinen Hobbs hochziehen zu wollen, aber in ihren Gesichtern ist eine gewisse Ängstlichkeit zu erkennen, als wären sie nicht sicher, was passiert, wenn sie ihn anfassen.
»Was zum Teufel ist denn hier los?«, frage ich Williams, der neben mir steht und die Vorgänge gelangweilt verfolgt.
»Es ist Hobbs«, sagt er und macht sich nicht mal die Mühe, mich anzusehen. »Scheint so, als hätte er den Verstand verloren. Geht zu Warren, während der schläft, und pisst ihn voll.«
»Gott«, sage ich, schüttele den Kopf und suche in meiner Tasche nach einer Zigarette. »Wie um alles in der Welt kommt er denn dazu?«
»Weiß der Himmel«, sagt Williams.
Ich beobachte das Durcheinander, bis zwei Sanitäter kommen, die Hobbs nötigen aufzustehen. Er redet in einem mir unbekannten Dialekt auf sie ein, und sie nehmen ihn mit. Als er hinter der nächsten Ecke verschwindet, höre ich, wie er die Stimme erhebt und die Namen der englischen Könige und Königinnen aufzählt, angefangen mit Harold und in perfekter Reihung, ein Überbleibsel aus alten Schultagen, nehme ich an. Als er das Haus Hannover erreicht, wird seine Stimme jedoch schwächer und verklingt nach William IV . ganz. Sie bringen ihn ins Sanitätszelt, und von dort kommt er wahrscheinlich ins Feldlazarett. Da vermodert er dann, oder sie bekommen ihn wieder so weit hin, dass er zurück an die Front geschickt wird.
Dreizehn von uns sind damit weg, sieben noch übrig.
Ich kehre in meinen
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