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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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wurde dunkler und die Luft kälter. Ich knöpfte meinen Mantel zu und nahm noch einen Zug aus meiner Zigarette.
    »Was werden Sie jetzt tun?«, fragte sie nach ein paar Minuten.
    »Ich fahre zurück nach London«, sagte ich.
    »Nein, das meine ich nicht. Ich meine, morgen und übermorgen. Überübermorgen und immer so weiter. Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Jetzt, da wir den Krieg hinter uns haben?«
    Ich überlegte. »Morgen früh sitze ich an meinem Schreibtisch bei Whisby Press«, sagte ich. »Da gibt es Manuskripte zu lesen, Absagen zu schreiben und Bücher zu lektorieren. Nächste Woche präsentieren wir ein paar Buchhändlern die kommenden Titel, da muss ich mir zu jedem noch ein paar Punkte überlegen.«
    »Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?«, fragte sie.
    »Ja«, sagte ich. »Ich habe gerne mit Büchern zu tun.«
    »Sie werden also dort bleiben? Sich um Beförderung bemühen? Selbst ein Verleger werden?«
    Ich zögerte. »Vielleicht versuche ich, selbst etwas zu schreiben«, gestand ich ihr. Es war das erste Mal, dass ich es jemandem gegenüber laut aussprach. »Ich habe während der letzten Jahre schon etwas herumprobiert, und ich denke, ich möchte es ernsthaft versuchen.«
    »Gibt es nicht schon genug Romane auf der Welt?«, fragte sie, um ein wenig zu sticheln, und ich lachte.
    »Ein paar mehr würden niemandem wehtun«, sagte ich. »Ich weiß nicht, vielleicht bin ich sowieso nicht gut genug.«
    »Aber Sie werden es versuchen?«
    »Ich werde es versuchen«, stimmte ich ihr zu.
    »Will hat viel gelesen«, sagte sie.
    »Ja. Ich habe ihn hin und wieder mit einem Buch gesehen«, sagte ich. »Manchmal brachten ein oder zwei eins mit, und die gingen dann von Hand zu Hand.«
    »Er hat schon mit drei Jahren angefangen zu lesen«, sagte Marian. »Und er hat sich auch im Schreiben versucht. Für Das Geheimnis des Edwin Drood hat er ein geradezu geniales Ende geschrieben, da war er gerade mal fünfzehn.«
    »Wie ging es aus?«
    »Genau so, wie es sollte«, sagte sie. »Edwin kam sicher und gesund nach Hause zurück. Das Glück währte ewig.«
    »Denken Sie, das ist das Ende, das Dickens im Sinn hatte?«
    »Ich denke, es ist das Ende, das Will für das befriedigendste hielt. Warum bleiben wir hier stehen?«
    »Das ist Mrs Cantwells Pension«, sagte ich und sah die Stufen zur Eingangstür hinauf. »Ich muss noch meine Tasche holen. Wir können uns hier verabschieden, wenn Sie mögen.«
    »Ich warte auf Sie. Der Bahnhof ist nur noch ein paar Schritte entfernt. Da kann ich auch gleich dafür sorgen, dass Sie sicher dorthin gelangen.«
    Ich nickte. »Es dauert nur ein, zwei Minuten«, sagte ich und lief die Stufen hinauf.
    Mrs Cantwell war nirgends zu sehen, aber ihr Sohn David stand hinter dem Empfangstresen, betrachtete eine Tabelle und hielt einen Bleistift zwischen seinen Lippen.
    »Mr Sadler«, sagte er und sah auf. »Guten Abend.«
    »Guten Abend«, antwortete ich. »Ich möchte nur meine Tasche holen.«
    »Aber ja.« Er bückte sich hinter den Tresen, hob sie vom Boden hoch und reichte sie mir. »Hatten Sie einen guten Tag?«
    »Ja, danke«, sagte ich. »Was die Rechnung angeht, haben wir ja bereits alles geregelt, richtig?«
    »Ja, Sir«, sagte er und folgte mir auf dem Weg zur Tür. »Werden wir Sie wieder einmal in Norwich begrüßen können?«
    »Nein, das denke ich nicht«, sagte ich. »Ich glaube eher, dass dies mein einziger Besuch hier bleibt.«
    »Oje. Ich hoffe doch, wir haben Sie nicht zu sehr enttäuscht?«
    »Nein, ganz und gar nicht. Es ist nur … nun, ich glaube nicht, dass mich meine Arbeit noch einmal herführt. Leben Sie wohl, Mr Cantwell«, sagte ich, streckte ihm meine Hand hin, und er betrachtete sie erst eine Weile, bevor er sie schüttelte.
    »Sie müssen wissen, dass ich zu kämpfen versucht habe«, sagte er, und ich nickte und zuckte mit den Achseln. »Sie meinten, ich sei zu jung, aber ich wollte es mehr als alles in der Welt.«
    »Dann sind Sie ein Narr«, sagte ich, öffnete die Tür und trat hinaus.
    Marian nahm meinen Arm, als wir zum Bahnhof hinübergingen, und ich fühlte mich gleichzeitig geschmeichelt und aus der Fassung gebracht. Ich hatte so lange gewartet, ihr zu schreiben, so viel Zeit damit verbracht, unser Zusammentreffen zu planen, und hier ging ich nun, stand kurz davor, nach Hause zurückzukehren, und hatte es immer noch nicht geschafft, ihr von den letzten Stunden ihres Bruders zu erzählen. Schweigend liefen wir nebeneinanderher, und sie muss das Gleiche gedacht

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