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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Freiheit geschützt haben!«
    Eine Dame ging mit einem kleinen Jungen vorbei, legte ihm die Hände auf die Ohren, und ich sah, wie der Junge den Mann völlig fasziniert anstarrte. Bevor ich etwas erwidern konnte, stürzte der Kerl auf mich los, und ich wich zurück, aber da tauchte auch schon ein Constable auf, packte ihn – sanft, wie sich herausstellte – und sagte: »Komm schon, das macht es auch nicht besser, oder?« Auf diese Binsenweisheit hin sank der Mann in sich zusammen und humpelte auf die Wand zu, wo er sich auf den Boden gleiten ließ und abwesend die Hand in die Luft hielt, ohne zu erwarten, dass ihm jemand etwas gab.
    »Tut mir leid, Sir«, sagte der Constable. »Er macht normalerweise keinen Ärger, und wir lassen ihn hier sitzen, weil er so ein paar Shilling bekommt. War in der Armee, wie ich auch. Hat ihn übel mitgenommen.«
    »Ist schon gut«, murmelte ich und verließ den Bahnhof wieder. Der Gedanke, zurück nach London zu fahren, war in den Hintergrund getreten. Ich war gekommen, um etwas zu erledigen. Es war wichtig, dass ich es hinter mich brachte, und es hatte nichts mit dem Zurückgeben von ein paar Briefen zu tun.
    Es dauerte fast zwei Wochen, bis ich eine Antwort von Marian Bancroft bekam, und in der Zwischenzeit vermochte ich an kaum etwas anderes zu denken. Ihr Schweigen ließ mich überlegen, ob sie meinen Brief überhaupt bekommen hatte, ob ihre Familie vielleicht sogar in einen anderen Teil des Landes hatte ziehen müssen oder ob sie einfach nichts mit mir zu tun haben wollte. Es war unmöglich zu sagen, und ich war hin- und hergerissen zwischen dem Bedauern, ihr überhaupt geschrieben zu haben, und dem Gefühl, dass ich ihre Weigerung, mir zu antworten, als Strafe zu verstehen hatte.
    Und dann eines Abends, nach einem Tag bei Whisby Press, den ich mit dem Prüfen langweiliger, unverlangt eingesandter Manuskripte verbracht hatte, wartete hinter meiner Wohnungstür ein Brief auf mich. Ich hob ihn erstaunt auf, denn ich bekam nie irgendwelche Post, sah die elegante Handschrift und wusste gleich, von wem er sein musste. Ich ging hinein, kochte mir eine Tasse Tee, starrte nervös auf den Umschlag und stellte mir vor, welche möglichen Traumata mich darin erwarten mochten. Endlich war ich so weit. Ich setzte mich, öffnete vorsichtig den Umschlag und zog das einzelne Blatt Papier daraus hervor. Sofort stieg mir ein schwacher Lavendelgeruch in die Nase, und ich fragte mich, ob es sich dabei um ihr Parfum handelte oder ob sie der altmodischen Art anhing, einen wohlriechenden Tropfen in den Umschlag zu geben, ganz gleich, ob es sich um einen Liebesbrief, die Bezahlung einer Rechnung oder die Antwort auf einen unerwarteten Brief wie meinen handelte.
    Lieber Mr Sadler,
    zunächst möchte ich Ihnen für Ihren Brief danken und mich entschuldigen, dass ich so lange gebraucht habe, um auf ihn zu antworten. Ich weiß, dass mein Schweigen ungehörig erscheinen mag, aber ich denke, Sie werden verstehen, wenn ich sage, dass mich Ihr Brief in unerwarteter Weise aufgewühlt und berührt hat und ich nicht wusste, wie ich darauf antworten sollte. Ich wollte nicht schreiben, bevor ich nicht sicher war, was ich sagen wollte. Ich glaube, die Leute übereilen ihre Antworten mitunter, denken Sie nicht auch? Und das wollte ich nicht.
    Sie sprechen sehr nett von meinem Bruder, und das hat mich ungeheuer bewegt. Ich bin froh, dass er dort »drüben«, wie Sie sagen, einen Freund hatte. (Warum drücken Sie sich so aus, Mr Sadler? Haben Sie Angst, den Ort beim Namen zu nennen?) Ich fürchte, ich habe unseren Soldaten gegenüber sehr gegensätzliche Gefühle. Selbstverständlich respektiere ich sie und bedaure, dass sie so lange unter so schrecklichen Bedingungen haben kämpfen müssen. Ich bin sicher, sie waren alle fürchterlich tapfer. Aber wenn ich mir vorstelle, was sie mit meinem Bruder gemacht haben, was ebendiese Soldaten ihm angetan haben, nun, ich bin sicher, Sie werden verstehen, dass meine Gefühle dann weniger großzügig ausfallen.
    Alle Tinte dieser Welt würde nicht ausreichen, das zu erklären, und ich weiß auch nicht, ob es genug Papier gäbe, meine Gedanken aufzunehmen. Ganz sicher würde ich keinen Postboten finden, der einen derartig langen Brief zustellen würde.
    Die Briefe – ich kann nicht glauben, dass sie bei Ihnen sind, und ich finde es sehr nett von Ihnen, dass Sie sie mir zurückgeben wollen.
    Mr Sadler, ich hoffe, Sie sehen es mir nach, aber ich glaube nicht, dass ich dieser Tage

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