Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
vernünftig.«
Sie waren stehen geblieben und wollten gerade zurückgehen, als der Reverend meinen Blick auffing und mir zulächelte. »Guten Morgen, junger Mann«, sagte er, und ich starrte ihn an und spürte, wie mir das Herz in der Brust schlug. »Guten Morgen«, wiederholte er, machte einen Schritt auf mich zu und lächelte immer noch onkelhaft, schien es sich dann aber anders zu überlegen, als spürte er eine Bedrohung, die ihn zurückweichen ließ. »Ist alles in Ordnung? Sie wirken, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.«
Ich öffnete den Mund, ohne zu wissen, was ich antworten sollte, und ich denke, ich muss die beiden ernsthaft erschreckt haben, als ich mich auf dem Absatz umdrehte und zurück auf die Tür zurannte, aus der ich gekommen war, wobei ich fast über die niedrige Hecke zu meiner Linken fiel, dann über ein kleines Kind zu meiner Rechten und über einige Pflastersteine stolperte, bevor ich mich in der Kathedrale wiederfand, die mir mit einem Mal so monströs wie beengend vorkam, als wollte sie mich packen und für immer festhalten. Mein Blick irrte durch den Kirchenraum, suchte verzweifelt nach dem Ausgang, und als ich ihn fand, rannte ich durchs Mittelschiff darauf zu. Die Sohlen meiner Schuhe schlugen schwer auf den Fliesenboden, ihr trommelgleicher Rhythmus hallte aus den Ecken wider, und ich spürte, wie sich die Köpfe der Gläubigen alarmiert und missbilligend in meine Richtung wandten.
Draußen rang ich nach Atem und füllte mir kraftlos die Lunge. Ich fühlte mich schrecklich, Schweiß drang mir aus der Haut und bedeckte meinen Körper. Alle Entspanntheit, die ich eben noch empfunden hatte, war zu Angst und Gewissensnot geworden. Der stille Gleichmut, den die Kathedrale in mir geweckt hatte, war verschwunden, und ich war wieder allein auf mich gestellt, allein im mir unbekannten Norwich, mit einer Aufgabe, die es zu erfüllen galt.
Wie hatte ich nur so dumm sein können? Wie hatte ich mich nicht erinnern können? Aber es kam alles so unerwartet, der Name – Reverend Bancroft – und dann der Ausdruck auf seinem Gesicht. Die Ähnlichkeit war unheimlich. Als wäre ich wieder im Ausbildungslager in Aldershot oder in den Gräben der Picardie. Es hätte jener grausame Morgen sein können, als ich mit dieser entsetzlichen, rachsüchtigen Wut aus der Zelle heraufgekommen war.
Es war mittlerweile Zeit, in die Pension zurückzukehren und mich vor meiner Verabredung etwas frisch zu machen. Ich ließ die Kathedrale hinter mir und ging links und rechts durch die sich kreuzenden Straßen.
Ich war es, der die Korrespondenz mit Marian Bancroft angefangen hatte. Wir kannten uns nicht, aber Will hatte viel von ihr gesprochen, und ich hatte die beiden um ihre außergewöhnliche Nähe beneidet. Ich hatte selbst eine Schwester, das stimmte, aber sie war erst elf gewesen, als ich von zu Hause wegging, und auf meine Briefe hatte ich nie eine Antwort bekommen. Ich nahm an, dass sie von meinem Vater abgefangen worden waren, bevor sie meine Schwester erreichten. Liest er sie selbst?, hatte ich mich oft gefragt. Stiehlt er sie ihr und reißt die Umschläge auf, um meine krakeligen Worte nach Hinweisen abzusuchen, wo ich bin und wie ich mir meinen Unterhalt verdiene? Und fragte sich vielleicht sogar ein Teil von ihm, ob eines Tages wohl keine Briefe mehr kämen, nicht weil ich aufgehört hatte zu schreiben, sondern weil ich nicht mehr lebte und mich die Straßen Londons verschlungen hatten? Es war unmöglich, darauf eine Antwort zu finden.
Der Krieg war seit fast neun Monaten vorüber, als ich endlich genug Mut gefasst hatte, Marian zu schreiben. Ich hatte es seit langer Zeit schon gewollt. Nacht für Nacht hatte mich ein Gefühl der Verantwortung wach gehalten, während ich zu entscheiden versuchte, was das Beste war. Ein Teil von mir hatte sie ganz aus meinem Kopf verbannen und so tun wollen, als gebe es sie und ihre Familie nicht. Womit konnte ich ihnen schließlich schon helfen? Welchen Trost hatte ich für sie? Aber der Gedanke an sie wollte mich nicht loslassen, und so kaufte ich eines Tages schuldgequält einige Bögen elegantes Briefpapier und einen neuen Füllfederhalter, denn schließlich wollte ich einen guten Eindruck machen, setzte mich hin und schrieb.
Liebe Miss Bancroft,
Sie kennen mich nicht, oder vielleicht doch, vielleicht hat er einmal meinen Namen erwähnt, jedenfalls war ich ein Freund Ihres Bruders Will. Wir waren zusammen in der Grundausbildung, bevor wir nach drüben geschickt
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