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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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wurden. Wir waren im selben Regiment, deshalb kannten wir uns gut. Wir waren Freunde.
    Ich muss mich dafür entschuldigen, Ihnen so völlig aus dem Blauen heraus zu schreiben. Ich weiß nicht, was Sie in den letzten Jahren durchgemacht haben, ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich weiß, dass Ihr Bruder immer in meinen Gedanken ist, denn er war, was auch gesagt werden mag, der tapferste und gutherzigste Mensch, dem ich je begegnet bin, und es gab da draußen viele tapfere Männer, das kann ich Ihnen sagen, aber nicht so viele gutherzige.
    Wie auch immer, auf jeden Fall schreibe ich Ihnen heute, weil ich etwas habe, das Will gehörte und von dem ich denke, dass ich es Ihnen zurückgeben sollte. Die Briefe, die Sie ihm geschrieben haben, während er drüben war. Er hat alle aufbewahrt, und am Ende hatte ich sie. Hinterher, meine ich. Wegen unserer Freundschaft. Ich versichere Ihnen, dass ich nicht einen von ihnen gelesen habe. Ich dachte nur, dass Sie sie vielleicht gerne zurückhätten.
    Natürlich hätte ich früher schreiben sollen, aber um ehrlich zu sein, ging es mir nach meiner Rückkehr nicht gut, und ich brauchte ein wenig Zeit für mich selbst. Vielleicht können Sie das verstehen. Aber ich glaube, das ist jetzt vorbei. Ich weiß es nicht. Ich bin unsicher, was die Zukunft betrifft. Ich weiß nicht, ob Sie es sind. Ich bin es.
    Ich wollte eigentlich nicht so viel schreiben. Ich wollte mich nur vorstellen und zum Ausdruck bringen, dass ich Sie, sollten Sie es mir erlauben, eines Tages gern besuchen und Ihnen die Briefe zurückgeben würde, denn ich denke, sie könnten einen gewissen Trost bedeuten, wenn Sie an Ihren Bruder denken.
    Vielleicht kommen Sie manchmal nach London. Ich weiß es nicht, und falls nicht, würde es mir auch nichts ausmachen, nach Norwich zu fahren. Ich hoffe, dieser Brief kommt gut bei Ihnen an, denn vielleicht sind Sie ja umgezogen. Wie ich höre, ziehen manche Menschen in solchen Fällen um, weil sie alles hinter sich lassen wollen.
    Wenn Sie mir schreiben, würde ich diese Sache gern erledigen. Falls Sie mich lieber nicht treffen wollen, kann ich Ihnen die Briefe auch in einem Päckchen schicken. Ich hoffe nur, dass Sie bereit sind, mich zu treffen. Es gibt so viele Dinge, die ich Ihnen erzählen möchte.
    Ihr Bruder war mein bester Freund, das habe ich bereits gesagt, richtig? Und ich weiß, dass er kein Feigling war, Miss Bancroft, ganz und gar nicht. Er war ein mutigerer Mann, als ich es je sein werde.
    Ich wollte nicht so viel schreiben. Aber es gibt so viel zu sagen.
    Mit respektvollen Grüßen,
    Tristan Sadler
    Ohne es zu merken, war ich an der Abzweigung zu meiner Pension in der Recorder Road vorbeigelaufen, stand vor der Riverside und sah hinüber zu den steinernen Säulen des Bahnhofs. Wie von selbst trugen mich meine Beine über den Fluss und in das Gebäude hinein, und ich stand stumm da und betrachtete die Leute, die ihre Fahrkarten kauften und zu den Bahnsteigen eilten. Es war fünf nach zwölf, und da, direkt vor mir, wartete der Zug nach London, der in fünf Minuten abfahren würde. Ein Schaffner lief an ihm entlang und rief: »Alles einsteigen!« Ich holte meine Brieftasche hervor und sah nach der Karte für meine Rückfahrt am Abend, die ich bereits bei mir trug. Mein Herz schlug schneller, als ich sah, dass sie für alle Züge an jenem Tag gültig war. Ich könnte also einfach einsteigen, nach Hause fahren und diese ganze vertrackte Geschichte hinter mir lassen. Natürlich würde ich damit meine Tasche verlieren, aber in der waren nur die Kleider von gestern und das Buch von Jack London. Ich konnte Mrs Cantwell schicken, was ich ihr schuldete, und sie um Nachsicht bitten, dass ich ohne ein Wort abgereist war.
    Während ich noch zögerte, kam ein Mann auf mich zu, streckte die Hand aus und fragte, ob ich ein paar Münzen übrig hätte. Ich schüttelte den Kopf und trat etwas zurück, da er nach kaltem Schweiß und billigem Alkohol roch. Er ging an Krücken, sein linkes Bein fehlte, und sein rechtes Auge war verbunden, als hätte er erst vor ein paar Tagen eine Schlägerei gehabt. Er war höchstens fünfundzwanzig.
    »Ein paar Pennys, das ist alles«, knurrte er. »Hab für mein Land gekämpft, und was hab ich jetzt davon? Sie können doch wohl ein paar Münzen erübrigen? Jetzt komm schon, du verfluchter Bastard!«, rief er mit erhobener Stimme und erschreckte mich mit seiner unerwarteten Vulgarität. »Du hast doch wohl ’n paar Pennys für die, die deine

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