Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
nichts ausgemacht, Miss Bancroft. Ich wollte einfach nicht das Risiko eingehen, erst heute Morgen herzufahren. Die Züge aus London sind immer noch wenig verlässlich, und ich wollte unsere Verabredung keinesfalls verpassen.«
»Diese Unzuverlässigkeit ist schrecklich, oder?«, sagte sie. »Vor ein paar Monaten musste ich zu einer Hochzeit nach London und beschloss, den Zug um zehn nach zehn zu nehmen, der mich gegen Mittag nach Liverpool Street hätte bringen sollen, aber was soll ich sagen, ich war erst um zwei da. Als ich die Kirche betrat, hatten sich meine Freunde bereits das Jawort gegeben und kamen mir auf dem Mittelgang entgegen. Es war mir so peinlich, dass ich am liebsten zurück zum Bahnhof gelaufen wäre und den ersten Zug nach Hause genommen hätte. Glauben Sie, dass die Dinge je wieder normal werden?«
»Eines Tages schon«, sagte ich.
»Aber wann? Ich werde fürchterlich ungeduldig, Mr Sadler.«
»In diesem Jahrhundert nicht mehr«, antwortete ich. »Vielleicht im nächsten.«
»Das hilft uns nicht. Da sind wir längst tot. Ist es zu viel verlangt, sich noch zu eigenen Lebzeiten ein funktionierendes Verkehrssystem zu wünschen?«
Sie lächelte und sah einen Augenblick lang weg, hinaus auf die Straße, wo eine zweite Gruppe Schulkinder vorbeikam. Diesmal waren es Mädchen, die wie die Jungen in einer ähnlichen militärischen Zweierformation gingen.
»War es schrecklich?«, sagte sie endlich, und ich blickte auf, überrascht, dass sie so schnell mit einer so grundlegenden Frage kam. »Ich meine die Bahnfahrt«, fügte sie hastig hinzu, als sie mein Unbehagen bemerkte. »Haben Sie einen Platz bekommen?«
Es war nur natürlich, sich zunächst über ein paar Belanglosigkeiten zu unterhalten. Wie hätten wir auch gleich auf den Anlass meiner Reise kommen können? Trotzdem war es ein komisches Gefühl, so mit ihr zu plaudern und anzunehmen, dass sie das Gleiche empfinden musste und wir uns beide des nichtssagenden Charakters unseres Austausches bewusst waren.
»Die Fahrt hat mir nichts ausgemacht«, antwortete ich, fast amüsiert über unser kleines Missverständnis. »Ich habe im Zug jemanden getroffen, den ich flüchtig kenne. Wir saßen im selben Abteil.«
»Wie schön. Lesen Sie, Mr Sadler?«
»Ob ich lese?«
»Ja. Lesen Sie?«
Ich zögerte und fragte mich einen Moment lang, ob sie meinte, ob ich lesen könne. »Nun, ja«, sagte ich vorsichtig. »Selbstverständlich lese ich.«
»Ich ertrage es nicht, ohne ein Buch Zug zu fahren«, verkündete sie. »Ein Buch ist die beste Selbstverteidigung.«
»Wie das?«
»Nun, wenn ich ehrlich sein soll, bin ich nicht unbedingt versiert darin, mich mit Fremden zu unterhalten. Oh, sehen Sie mich nicht so besorgt an, ich werde mir mit Ihnen die größte Mühe geben. Aber jedes Mal, wenn ich in einem Zugabteil sitze, landet garantiert irgendein einsamer alter Junggeselle neben mir, der mir Komplimente machen will, wegen meines Kleides, meiner Frisur oder meines guten Hutgeschmacks, und das geht mir auf die Nerven und kommt mir immer fürchterlich von oben herab vor. Sie wollen mir doch keine Komplimente machen, Mr Sadler?«
»Vorgehabt habe ich es wenigstens nicht«, sagte ich. »Ich kenne mich mit Damenkleidern, Frisuren und Hüten nicht so gut aus.«
Sie sah mich an. Offenbar gefiel ihr meine Bemerkung, denn ihre Lippen öffneten sich ganz leicht, und sie schenkte mir so etwas wie den fernen Verwandten eines Lächelns. Es war offensichtlich, dass ihr noch nicht klar war, was sie von mir halten sollte.
»Und wenn es kein Junggeselle ist, ist es irgendein fürchterliches altes Weib, das mich über mein Leben ausfragt und wissen will, ob ich verheiratet bin, einen Beruf habe, was mein Vater von Beruf ist und ob wir nicht doch irgendwie mit den Bancrofts in Shropshire verwandt sind. Und so geht es immer, immer weiter, Mr Sadler, schrecklich ist das.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich. »Mit einem Mann in meinem Alter redet kaum jemand. Junge Damen schon gar nicht. Junge Männer auch nicht. Und die Alten … nun, manchmal schon. Manchmal stellen sie Fragen.«
»Eben«, sagte sie, und ihr Ton besagte unmissverständlich, dass sie dem Thema nicht länger nachgehen wollte. Sie griff nach ihrer Handtasche, holte ein Zigarettenetui hervor, nahm sich eine und bot auch mir eine an. Ich wollte schon annehmen, entschied mich aber in letzter Sekunde anders und schüttelte den Kopf. »Sie rauchen nicht?«, fragte sie entsetzt.
»Doch, doch«, sagte
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