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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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ich, und hatte eine reine, makellose Haut. Sie hatte ein wenig Lippenstift aufgetragen, aber vielleicht war es auch ihre natürliche Lippenfarbe. Das Haar trug sie ordentlich, praktisch, gerade bis unter die Kinnlinie reichend, ohne jede Eitelkeit. Sie war eine schöne Frau, würde ich sagen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass manch junger Mann ihretwegen den Kopf verlor. Oder abgebissen bekam.
    »So«, sagte sie endlich. »Wo haben Sie denn übernachtet?«
    »In Mrs Cantwells Pension«, antwortete ich.
    »Cantwell?«, fragte sie, legte das Gesicht in Falten, und fast hätte ich nach Luft geschnappt. Da war er! In diesem Ausdruck. »Die kenne ich nicht, oder? Wo ist die Pension?«
    »In der Nähe des Bahnhofs. Bei der Brücke.«
    »Ach ja«, sagte sie. »Da sind gleich eine ganze Reihe, nicht wahr?«
    »Ich glaube schon.«
    »Man kennt nie die Pensionen in der eigenen Stadt.«
    »Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Nein, da haben Sie wohl recht.«
    »Wenn ich in London bin, steige ich in einem sehr schönen Haus am Russell Square ab. Eine Irin namens Jackson führt es. Natürlich trinkt sie. Gin, und das literweise. Aber sie ist höflich, ihre Zimmer sind sauber, und sie lässt mich in Ruhe, mehr will ich nicht. Kann kein Frühstück zubereiten, für ihr Leben nicht, aber das ist ein kleiner Preis. Kennen Sie den Russell Square?«
    »Ja«, sagte ich. »Ich arbeite in Bloomsbury. Früher habe ich in Südlondon gewohnt, heute lebe ich nördlich des Flusses.«
    »Wollen Sie nicht ins Zentrum ziehen?«
    »Im Augenblick nicht, nein. Das ist ungeheuer teuer, und ich arbeite in einem Verlag, wissen Sie.«
    »Lässt sich da kein Geld verdienen?«
    »Für mich nicht«, sagte ich und lächelte wieder.
    Sie lächelte ebenfalls und sah auf den Aschenbecher, und ich dachte, dass sie bedauerte, ihre Zigarette ausgedrückt zu haben, denn sie schien mit ihren Händen nichts anzufangen zu wissen. Sie blickte zur Theke hinüber, wo noch nichts von unserem Tee zu sehen war, und auch die Kellnerin schien verschwunden. Der ältere Mann, der bei meiner Ankunft noch dort gestanden hatte, war ebenfalls nirgends zu sehen.
    »Ich habe Durst«, sagte sie. »Warum braucht sie so lange?«
    »Ich bin sicher, sie kommt gleich.«
    Tatsächlich fühlte ich mich ziemlich unwohl und fragte mich, warum ich überhaupt hergekommen war. Es war klar, dass wir uns beide unwohl fühlten. Ich war still und trug nur mit einigen schnellen Antworten und scheuen Bemerkungen zur Unterhaltung bei, während Miss Bancroft, Marian, ein wahres Bündel nervöser Energie war und ohne Zögern von einem Thema zum nächsten wechselte. Wobei ich auch nicht einen Augenblick annahm, dass sie wirklich so war. Es lag an unserer Zusammenkunft. Sie fühlte sich nicht frei genug, sie selbst zu sein.
    »Gewöhnlich sind sie hier sehr verlässlich«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«
    »Aber nein.«
    »Gut, dass wir kein Essen bestellt haben, was? Himmel noch mal, wir wollen doch nur zwei Tassen Tee. Aber Sie müssen hungrig sein, Mr Sadler. Haben Sie etwas gegessen? Junge Männer sind immer hungrig, finde ich.«
    Ich sah sie an und war unsicher, ob ihr bewusst war, dass sie genau diese Bemerkung bereits gemacht hatte, doch das schien seltsamerweise nicht so zu sein.
    »Ich habe gefrühstückt«, antwortete ich schließlich.
    »Bei Ihrer Mrs Cantwell?«
    »Nein, da nicht. In einem Café.«
    »Oh, wirklich?«, fragte sie, beugte sich vor und schien mit einem Mal fürchterlich interessiert. »Wo waren Sie denn? War es schön dort?«
    »Ich weiß nicht mehr«, sagte ich. »Ich glaube …«
    »Es gibt etliche gute Lokale in Norwich«, sagte sie. »Sie denken wahrscheinlich, dass wir hier schrecklich provinziell sind und nicht wissen, was gutes Essen ist. Ihr Londoner denkt das alle, oder?«
    »Ganz bestimmt nicht, Miss Bancroft«, antwortete ich. »Tatsächlich …«
    »Sie hätten mich vorher fragen sollen. Wobei, wenn Sie mich hätten wissen lassen, dass Sie schon einen Tag früher kommen würden, hätten wir Sie vielleicht zum Abendessen eingeladen.«
    »Ich möchte Ihnen wirklich keine Umstände machen«, sagte ich.
    »Aber das wären doch keine Umstände gewesen«, sagte sie und klang fast beleidigt. »Um Himmels willen, eine Person mehr oder weniger am Tisch. Was für Umstände sollten das sein? Wollten Sie nicht zum Essen zu uns kommen, Mr Sadler? War es das?«
    »Der Gedanke ist mir gar nicht gekommen«, sagte ich und

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